„Die zivilen Wurzeln sind zerstört“

„Gerade Junge leiden unter der Situation. Folge ist entsetzlicher Fatalismus.“„Gewalt in den Familien nimmt zu, Frauen und Kinder sind psychisch krank“„Den Politikern schmeckt zivile Initiative nicht, sie wollen die Kontrolle“„Wir haben Arafat als Symbol aufgebaut und einen Heiligenschein verpasst“

Interview BASCHA MIKA

Frau Naser, eine palästinensische Jugendliche, die in Bethlehem eingeschlossen war, sagt über ihr Lebensgefühl: „Ich fühle mich wie tot, obwohl mein Herz, das voller Wut ist, noch schlägt.“ Verstehen Sie, was in dem Mädchen vorgeht?

Sumaya Farhat-Naser: Wer tagelang, wochenlang eingesperrt ist, fühlt sich wie tot. Er darf nichts tun und hat zugleich diesen Drang nach Überleben, nach Veränderung. Da wird die Wut lebendig.

Und die macht aus Jugendlichen Selbstmörder?

Gott sei Dank nur aus einigen.

Bei Selbstmordattentaten denkt man sofort an politische Motive. Aber gibt es nicht auch andere Beweggründe, vor allem bei Jungendlichen? Individueller Lebensüberdruss zum Beispiel oder einmal den Helden spielen zu wollen?

Wer so etwas Schreckliches tun will, versucht es zu rechtfertigen: durch metaphysische, religiöse oder politische Gründe. Wer sagt, dass er sich für eine gerechte Sache opfert, erlebt den eigenen Tod nicht als Niederlage.

Sind Selbstmordattentate inzwischen auch Teil einer palästinensischen Jugendkultur, fast eine Mode?

Ja, das ist sicher so, aber deshalb, weil die Jugendlichen glauben, dass es der einzige ihnen verbliebene Weg ist. Gerade junge Menschen leiden unter der Aussichtslosigkeit der Situation. Die Folge ist ein entsetzlicher Fatalismus, der darin enden kann, dass man denkt: Bevor sie mich töten, beende ich mein Leben in Würde und töte mich selbst.

Sie sprechen von Würde. Aber es steckt doch auch ein brutaler Vernichtungswille dahinter. Die meisten Selbstmörder töten sowohl Araber als auch Israelis. Ist ihnen egal, wer zum Opfer wird?

Ganz sicher. Terror, Gewalt – solche Attentate kennen keine Grenze der Ethnizität und Religion, es geht gegen die Menschlichkeit. Trotzdem muss man sich ansehen, was die Einzelnen dazu führt – wie die junge Frau, die sich kürzlich an einem Checkpoint in die Luft sprengte. Sie hat durch die Israelis innerhalb von zwei Monaten ihren Verlobten und ihren Bruder verloren.

Gilt sie als Heldin?

Diese Art des Kampfes wird in Teilen unserer Gesellschaft als Heldentat betrachtet – was wiederum andere ermutigt.

Wäre es nicht eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft, gerade den verzweifelten Jugendlichen Mut zum Leben zu machen, statt sie in ihrer Hoffnungslosigkeit den Gruppen zu überlassen, die Selbstmordattentäter rekrutieren?

Glauben Sie ja nicht, dass wir einfach hinschauen und schweigen oder in die Hände klatschen vor Freude. In der palästinensischen Gesellschaft wird seit zwei Jahren eine heftige Debatte darüber geführt. Überall, auf der Straße, beim Einkaufen, in der Moschee, ist es das Gespräch der Stunde.

Welche Meinung überwiegt?

Die große Mehrheit begreift Selbstmordattentate als ein Verbrechen gegen sich selbst und gegen die Menschlichkeit – vor allem wenn Zivilisten betroffen sind. Dann gibt es aber auch diejenigen, die sie für ein legitimes Kampfmittel halten, wenn es gegen Soldaten oder Siedler geht. Der Tod des Selbstmörders wird dabei billigend in Kauf genommen. Aber nur eine Minderheit findet jegliches Töten von Israelis legitim.

Wenn diese Diskussion so eifrig geführt wird, Frau Naser, warum erfährt die internationale Öffentlichkeit so wenig davon?

Weil niemand daran interessiert ist, was wir durchmachen, und auch nicht daran, was wir an Friedensarbeit leisten.

Da machen Sie es sich doch zu einfach. Kaum jemand aus Palästina redet so offen wie Sie.

Wir genießen keinen Schutz, wenn wir unsere freie Meinung sagen. Ich bin eine von wenigen, die dieses Risiko eingeht.

Wen müssten Sie denn fürchten? Palästinenser?

Israelis und Palästinenser. Es kann sehr gefährlich sein, Genaueres über einen Terrorakt zu erzählen. Außerdem ärgern sich viele Palästinenser, dass sie international oft mit den Taliban gleichgesetzt werden. Sie glauben, dass sie nur missverstanden werden, und halten lieber den Mund.

Um nicht zum Verräter am eigenen Volk zu werden?

Ja.

Seit 35 Jahren lebt das palästinensische Volk unter Besatzung, ist seit Jahrzehnten Opfer von Gewalt und gleichzeitig Täter. Hat das nicht zu einer tief gehenden Brutalisierung der palästinensischen Gesellschaft geführt?

Ganz bestimmt. Wir haben unsere eigenen zivilen Wurzeln zerstört. Denn wenn junge Menschen zunehmend den Sinn des Lebens verlieren und dann auch andere nicht leben lassen wollen – dann richtet sich das nicht nur gegen die Feinde, sondern schlägt zurück auf das eigene Volk. Das ist eine furchtbare Entwicklung, die unseren Weg zu Demokratie und Menschenrechten hemmt.

Spüren Sie diese Verrohung im Alltag?

Die Gewalt in den Familien hat zugenommen, dadurch auch die Scheidungen. Es gibt viele Frauen und Kinder, die psychisch krank sind. Dazu kommt die Aggressivität an den Schulen. Die Hälfte der Schüler ist hyperaktiv und kann nicht länger als zehn Minuten still sitzen. Sie wandern umher, sie können sich nicht konzentrieren. Es ist viel schlimmer geworden in den letzten zwei Jahren. Die Lehrer schaffen es nicht, auch nur für wenige Minuten Ruhe zu schaffen.

Wird darüber öffentlich diskutiert, ist es als Problem bekannt?

Es gibt Lehrerseminare, Versammlungen an der Uni, es ist Thema in den Zeitungen …

Und wie reagieren die politischen Führer? Verstehen sie überhaupt, dass die Gewalt zur Erosion der moralischen Fundamente der Gesellschaft führt?

Es gibt außer Hamas und Dschihad al-Islami nicht viele, die Attentate befürworten …

Und diese Gruppen nehmen die Entwicklung hin?

Ja. An den Frauen kann man es zeigen. Die Islamisten lehnen Frauen als Attentäterinnen ab. Die Fatah lässt es zu, zumindest die Radikalen unter ihnen. Unter den Attentäterinnen der letzten Zeit waren zwei von der Fatah. Und mit Sicherheit hat ihnen jemand geholfen, weil sie gar nicht gewusst hätten, wo sie den Sprengstoff herbekommen.

Wie steht es mit Israel? 35 Jahre als Besatzungsmacht – es muss eine Gesellschaft moralisch korrumpieren, wenn sie ihre jungen Leute permanent Gewaltsituationen aussetzt und sie nicht davor schützt, sich schuldig zu machen.

Ja, das ist spürbar. Mit einem deutlichen Unterschied: Nicht jeder in Israel ist dieser Situation ausgesetzt. Die Mehrheit weiß, da ist etwas nicht in Ordnung, aber sie hat Angst, sich damit zu konfrontieren. Diejenigen, die das erkennen, sind die Leute aus der Friedensbewegung, mit denen ich zusammenarbeite.

Welche Symptome beobachten Sie in Israel?

Die Selbstmorde bei jungen Israelis haben zunommen. Die Jugendlichen kommen mit der Schizophrenie in der Gesellschaft nicht zurecht. Auf der einen Seite ist der Staat demokratisch, liberal, alles ganz wunderbar. Aber sobald jemand Soldat wird, soll er brutal sein und gegen andere Menschen vorgehen – das kann die Seele nicht verkraften. Wie oft erkenne ich, wenn ich junge Soldaten anspreche, ihre Angst. Sie möchten am liebsten zu Hause sein. Gott sei Dank gibt es inzwischen eine Bewegung von israelischen Schülern und Studenten, die das so nicht mehr wollen.

Und die Erwachsenen?

Es gibt ähnliche Phänomene wie bei den Palästinensern. Prügelnde Väter, Familientrennungen, eine ungeheure Aggressivität in der ganzen Gesellschaft. Die Angst ist immer da, und die muss man mit Brutalität bekämpfen.

Gibt es in Israel ein Bewusstsein für diese Entwicklung?

Nicht in der breiten Öffentlichkeit, aber in Seminaren, unter Akademikern, bei Initiativen wird darüber diskutiert. Vor allem von Frauen, die sich in Friedensgruppen engagieren.

Stichwort Frauengruppen: Welche Rolle spielen Frauengruppen in Palästina?

In erster Linie arbeiten sie am Aufbau der zivilen Gesellschaft. Sie bilden aus für soziale Dienste, für medizinische Betreuung und Kindergärten – das typische Feld für Frauen. Aber in der Politik spielen sie nach wie vor keine entscheidende Rolle.

Ist das nicht ihr gemeinsames Ziel?

Nein, sie sind total zerstritten. Da steht auf der einen Seite die Frauenunion. Sie existiert bereits seit 1929 und wurde von den bürgerlichen Frauen der Städte gegründet. 1965 hat sie dafür gekämpft, als Teil der PLO anerkannt zu werden, weil sie zum politischen Establishment gehören wollte. Die Frauenunion war mit Arafat im Exil in Tunis. Doch in der Zwischenzeit, während der Besatzung, haben sich in Palästina neue Frauengruppen gegründet und an der Basis gearbeitet. Diese Gruppen haben einen ganz anderen politischen Reifeprozess durchgemacht.

Was heißt das konkret?

Die Verhältnisse zu verbessern ist ihnen wichtiger als die richtige Ideologie. Ihnen geht es um Demokratie und Menschenrechte und natürlich Frauenrechte. Doch seitdem die Frauenunion aus dem Exil zurückgekommen ist, hat sie den Führungsanspruch in der Frauenbewegung beansprucht. Jetzt stehen sich die Frauenunion, die von der politischen Führung offiziell anerkannt ist, und die Frauen von der Basis gegenüber. Die Union sitzt mit an den politischen Schalthebeln und verhindert sogar, dass Forderungen der Frauen von der Basis durchgesetzt werden. Die Union ist in erster Linie loyal gegenüber der Obrigkeit und fürchtet um ihre Posten und ihren Einfluss innerhalb der politischen Führungsclique.

Ist die Frauenunion denn irgendwie demokratisch legitimiert?

Eben nicht. Einer der Hauptstreitpunkte ist ja die Frage nach Demokratie und politischer Transparenz. Es gibt übrigens noch eine dritte größere Gruppe: die Frauenkomitees der politischen Parteien, zum Beipsiel der Fatah. Deren Vorstellungen stehen in deutlichem Widerspruch zu denen vieler bürgerlicher Frauen, die keine politische, sondern nur eine soziale und mütterliche Rolle für die palästinensische Frau wollen. Es gibt also sehr unterschiedliche Strömungen – und alles zusammen nennt sich Frauenbewegung.

Wie steht es denn insgesamt um die Demokratie in der palästinensischen Gesellschaft?

Vor allem die Frauengruppen haben viel zum Aufbau einer zivilen Gesellschaft beigetragen. In Palästina gibt es 1.200 Nichtregierungsorganisationen [NGOs] und das sind zu 80 Prozent Fraueninitiativen. Sie sind es, die von der Regierung mehr Demokratie und Transparenz fordern, Korruption und Menschenrechtsverletzungen anklagen. Aber die politische Führung versucht sie auszubooten.

Was passt ihr nicht an den NGOs?

Die NGOs erledigen viele Aufgaben, die eigentlich in die Zuständigkeit der Ministerien fallen – von der Erziehung bis zur politischen Bildung. Dadurch gibt es Rivalitäten um Geld und Einfluss. Nur haben die NGOs seit vielen Jahren Erfahrung und machen ihre Arbeit einfach besser. Den Politikern schmeckt das nicht, sie wollen die Kontrolle.

Hat die palästinensische Führung überhaupt kein Interesse, zivile Strukturen aufzubauen?

Doch, schon. Aber wenn die Basis protestiert, kommt die Regierung immer mit dem Argument: Kritisieren könnt ihr später, erst muss die Besatzung beendet werden und müssen wir unseren Staat haben, dann können wir einen Demokratisierungsprozess einleiten.

Wäre Arafat eigentlich noch der palästinensische Übervater, wenn die Israelis nicht versucht hätten, ihn kaltzustellen?

Wir haben ihn als Symbol über Jahre aufgebaut und ihm einen Heiligenschein verpasst – eine ziemlich extreme Entwicklung. Unter anderen politischen Voraussetzungen gäbe es längst andere Personen an seiner Stelle. Aber wenn man versucht, über Arafat unsere Würde anzugreifen, uns total zu erniedrigen und zu verletzen – in so einer Situation der politischen Schwäche bleibt nur die Solidarität mit ihm. Man wird ihn erst ersetzen, wenn seine Ehre wiederhergestellt ist – was auch an den patriarchalen Strukturen liegt.

Ist das patriarchale System nicht ein Hindernis im Friedensprozess?

Wir sind eine patriarchale Gesellschaft, und Arafat denkt total patriarchal. Aber das behindert nicht den Friedensprozess, sondern die Entwicklung der Demokratie. Arafat ist kein Demokrat. Er hat bei der Besetzung von Posten immer darauf geachtet, bestimmte Sippen und Familien zufrieden zu stellen und will von oben stets alles im Griff behalten. Aber an den Friedensprozess hat er immer geglaubt. Er wollte allen zeigen, dass wir unser Land zurückbekommen können, und hat uns mit der Demokratie auf später vertröstet.

Immer wieder erregt der Umgang der Palästinenser mit Kollaborateuren Aufsehen.

Es gibt tatsächlich Verräter, Kollaborateure, die mit dem israelischen Militär zusammenarbeiten. Ich kenne viele davon. Sie spionieren für die Israelis in den Familien und verraten den eigenen Bruder. Und wenn der dann von einer gezielt gesteuerten Rakete getötet wird, heißt es: Ich wollte es nicht, sie haben mir gesagt, sie wollten ihn nur beobachten. In letzter Zeit sind mindestens neun Kollaborateure von Palästinensern hingerichtet worden.

Das halten Sie für legitim?

Um Gottes willen, nein. Viele wie ich fragen zu Recht: Vor welchem Gericht haben sie gestanden? Wer hat entschieden, dass sie Kollaborateure sind, und wer hat das Recht, sie zum Tode zu verurteilen? Unsere Gerichtsbarkeit ist mangelhaft. Das fördert die Brutalisierung der Gesellschaft und die Ungerechtigkeit gegenüber diesen Menschen. Wir haben tausende Kollaborateure, offiziell sind es 18.000.

Wie bitte?

Ja, sicher. Bei einem Friedensabkommen wollen die Israelis für sie eine extra Klausel durchsetzen, damit sie von der palästinensischen Regierung nicht angetastet werden. Viele dieser Palästinenser haben die israelische Staatsbürgerschaft. So ein Mann lebt auch in meinem Dorf. Bei der ersten Intifada habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie er die israelische Armee bei ihren Gräueltaten unterstützte. Und er lebt immer noch dort, unter dem Schutz der Israelis. Das ist ein ganz typisches Phänomen der Besatzung: Ohne Kollaborateure funktioniert kein Besatzungssystem.

Was treibt diese Menschen?

Ich habe mal ein öffentliches Gespräch mit Kollaborateuren geführt. Einige haben das für 200 Dollar gemacht.

Wie werden sie angeworben?

Es ist ein Verbrechen, wie die israelischen Besatzungsbehörden manche dieser Menschen rekrutieren. Da sind Frauen dabei, sogar Kinder. Frauen werden oft mit ihren Kindern erpresst. Da wird ein Kind bei einer Demonstration festgenommen und ins Gefängnis gesteckt. Dann stellt man die Mutter vor die Wahl: Entweder bekommt ihr Kind fünf Jahre oder sie ist bereit, mit den Israelis zusammenzuarbeiten. Erst soll sie nur harmlose Sachen berichten, wer wo hingeht zum Beispiel. Und wenn es schlimmer wird, kann sie nicht mehr aussteigen, weil die Komplizen die Aussteiger töten, um nicht selbst verraten zu werden.

18.000 offizielle Spitzel. Da traut doch keiner mehr dem anderen …

Es zerstört den Zusammenhalt der Gesellschaft, wenn man jedem, dem Freund, dem Nachbarn, sogar der eigenen Frau, misstraut. Es ist ein furchtbares Problem, dessen Folgen uns noch viele, viele Jahre beschäftigen wird.