Die Hoch-Zeit des Lebens

Unsere Medizin betrachtet Alter als Defekt – als Lebensphase, in der im Gegensatz zur Jugend vieles nicht mehr möglich ist. Dabei liegt im Älterwerden vor allem die Chance, sich den Konditionierungen der Hochleistungsgesellschaft zu entziehen

Man darf eine medizinische Blickverkürzung vermuten

von PETER FUCHS
und RALPH KRAY

Soziologen sind unterwiesen in der Kunst, sich überraschen zu lassen durch das, was sonst niemanden in der sozialen Welt überrascht.

Sie staunen darüber, wieso sich Menschen leidenschaftlich küssen, obgleich dabei Körperflüssigkeiten ausgetauscht werden, ein Austausch, den man im Alltag ansonsten zu vermeiden trachtet. Sie wundern sich darüber, dass man nur Geld einsetzen muss, um Brötchen zu bekommen (und darüber, dass dies gewaltfrei funktioniert). Sie sind verblüfft, wenn sie hören, dass Menschen sich kollektiv bindenden Entscheidungen anbequemen, oder kommen kaum aus dem Kopfschütteln heraus, wenn sie damit konfrontiert werden, dass ein ganzes System, nämlich das Gesundheitssystem, sich nach einem Wert benennt, der nicht definiert werden kann.

Eine solches Staunen stellt sich auch ein, wenn man sich dem (volkswirtschaftlich ja unvorstellbar teuren) Kompaktphänomen der Demenz annähern will und als soziologischer Beobachter zunächst nur eines sieht: Was immer Demenz sein mag, sie ist nahezu durchgängig defektologisch konstruiert.

Die Leitwissenschaft ist die Medizin. Sie sieht nur, gleichsam umstandslos, den in irgendwelchen Hinsichten defekten Körper alter Menschen, ein aus dem Ruder laufendes neuronales Substrat, eine zerebrovaskuläre Störung, eine Infarzierung des Gehirns. Daraus ergibt sich ein Bild, in dem der Störung des Körpers Symptome entsprechen, die – versteht sich – ebenfalls negativ definiert sind, und zwar, wie sich schnell zeigen lässt, anhand dessen, was als Normalität nicht-alter Leute begriffen wird. Es geht dann zum Beispiel um Gedächtnisstörungen und nicht um Erinnerungsgewinne anderer Art, die man jungen Menschen wünschen könnte, kurz: In jedem Merkmal geht es einzig und allein um eine Mehrheit von Defekten, gewonnen am Gegenbild des Nicht-Alters, dem massenmedialen Simulacrum Jugend.

Dahinter darf man eine naturwissenschaftlich-medizinische Blickverkürzung vermuten, die – weil sie körperzentriert zustande kommt – nicht einer einzigen soziologischen Vorstellung darüber bedarf, wie denn eigentlich sozial Alter hergestellt wird. Ausgegangen wird typisch davon, dass es das Alter gibt und dass es eine teure (weil krankheitsanfällige) Lebenszone darstellt, die man gleichsam am langsamen Gang, an Brille, Hörgerät, Falten, fehlendem oder weißem Haupthaar, Körperverkleinerung und Rentenausweis erkennt. Jugendliche Alte in der Werbung sind entsprechend gefragt: als Fahrradfahrer, Turmspringer, Rückenschmerzbesieger.

Betreibt man im Blick auf dieses kuriose Bild ein cooling out, wird man sich zunächst danach fragen können, wie denn dieses Negativbild des Alters in unserer Kultur aufgebaut wird. Eine Antwort wäre, dass dieses Alter durch Beobachter erzeugt wird, die ein Noch-Nicht von einem Nicht-Mehr unterscheiden, und zwar so, dass die Zurechnung auf ein Noch-Nicht die Idee von Lebenschancen mitführt, die Zurechnung auf ein Nicht-Mehr die Idee von bestimmten Lebensmöglichkeiten ausschließt.

Das geschieht alltäglich. Eine 16-Jährige ist zu alt für Gute-Nacht-Geschichten (jedenfalls für die, die der Vater erzählt), das ist ein Nicht-Mehr, aber sie ist zu jung für das Studium der Gerontologie, das wäre ein Noch-Nicht. Robby Williams ist zu alt für eine Boygroup (nicht mehr), zu jung für die Darstellung von King Lear (noch nicht). Eine 70-jährige Dame ist zu alt, um noch Kinder bekommen zu können, aber noch nicht alt genug, um möglicherweise die ersten sexuell beglückenden Erfahrungen ihres Lebens erwarten zu dürfen, aber im Allgemeinen wird ihr dieses Noch-Nicht sozial als Nicht-Mehr angeboten.

Dieses Schema durchsetzt unsere Lebenswelt, und da wir in hoch beschleunigten Zeiten leben, ist es als Zeitschema ständig präsent und brisant – für jeden und jede. Alter (im sozusagen unglücklichen Sinne) wird dann sozial zugeschrieben, wenn die Zurechnung auf ein Nicht-Mehr übermächtig wird – im Falle einer Übersummation also, durch die sich die Wahrscheinlichkeit auf Teilhabe an irgendeinem Noch-Nicht sozial erheblich vermindert.

Dabei ist entscheidend, dass die Gesellschaft festlegt, was als erstrebenswertes Noch-Nicht zu gelten hat, was nicht. Dass jemand schlechter hört, wenn er älter wird, schließt ihn dann aus Kommunikationen aus, wenn klares, deutliches Reden nicht zu den Usancen einer feinhörigen (aber möglicherweise rücksichtslosen) Umgebung gehört. Wenn jemand die Treppen nicht mehr hinaufrasen kann, könnte das als Zeit- und Gelassenheitsgewinn gedeutet werden, wenn es eine gelassene, Langsamkeits- und Wahrnehmungsgewinne schätzende Umwelt gäbe. Und wenn jemand sich Termine nicht mehr merken kann (gar keine Lust dazu hat), dann ließe sich das als Freiheit begreifen, die etwa in Richtung eines mediterranen oder gar afrikanischen Zeit-Laisser-faire ginge, wenn nicht die Umwelt durch Zeitzwänge determiniert (sozialisiert) wäre, die man bei hinreichendem Verstand nicht sehr lieben müsste.

Dieser Gedanke (Alter als sozial verfertigte Übersummation von Nicht-Mehr) wird schärfer, wenn man es aufgäbe, von defekten Körpern, defekten Individuen zu sprechen, sondern wenn stattdessen von sozialen Adressen die Rede wäre. Dieser Begriff meint, dass in der Kommunikation Strukturen entstehen (soziologisch Bündel von Erwartungen genannt), die darüber befinden, wer jemand sein kann und sein darf, ob er will oder nicht.

Wenn eine ältere Frau an der Kasse einer Supermarktkette im Portemonnaie nach passendem Kleingeld kramt, wird man hinter ihr in der Schlange hochgezogene Augenbrauen so gut finden wie eine Mimik angemessenen Mitleids. Womöglich wird die Kassiererin eingreifen und der dann alten Dame behilflich sein, also selbst in der Börse herumsuchen, aber sollte die ältere Frau sich gegen diese Zumutung wehren („Lassen Sie die Finger aus meinem Portemonnaie!“ oder: „Was glotzen Sie da so?“), wird sofort auf Aggression, Starrsinn etc. zugerechnet: denn – so ist das eben!

Die Adresse (die um die Zuschreibung Alter gebündelt wird) ist in dieser Hinsicht tragisch, sie ist systematisch durch eine fatale Beraubungsstruktur gekennzeichnet. Erwarten lässt sich deshalb, dass die Leute, die von ihr betroffen sind und betroffen gemacht werden, somatisch reagieren im Sinne einer somatischen Prävention. Die Hände zittern schon, wenn man anfangen will, in der Börse zu kramen. Man traut sich nicht, den vereinbarten Termin zu nennen (fragt lieber x-mal nach), weil die Nennung des falschen Termins sozial gravierende Folgen hat. In klassischer Terminologie: Die Adresse, die durch die Übersummation des Nicht-Mehr zustande kommt, hat Kassandra-Struktur, sie ist gearbeitet nach der Weise einer selffulfilling prophecy.

Spitzt man diese Überlegung zu, so könnte es sein, dass eine defektologisch orientierte Medizin, Pflege, Therapie etc. somatische Präventionen des Körpers, die sozial veranlasst sind, gleichsam zu spät, im Nachtrag oder Nachgang behandelt. Und dies könnte viel häufiger geschehen, als man zunächst zu glauben geneigt ist. Die Medizin hätte es mit einem sozialen Artefakt zu tun, dessen somatische Ausprägungen zwar imponieren, aber womöglich vermieden oder aufgeschoben werden könnten, wenn auf den Kontext der Übersummation des Nicht-Mehr mit solchen Strategien reagiert wird, die das Noch-Nicht ins Zentrum rücken.

Das Plädoyer gilt mithin der längst überfälligen Abwehr defektologischer Beobachtung des Alters. Es geht darum, nicht Defekte zu sehen, wo möglicherweise Chancen einer Lebensgestaltung liegen, die auf die Konditionierungen einer auf Effizienz und Hochtemporalisierung getrimmten Gesellschaft nicht mehr angewiesen ist.

Wenn man träumen dürfte, wäre das Ziel, Altern und Alter als Hoch-Zeit des Lebens zu definieren. Sie dürften nicht mehr, um ein sehr altes Wort zu bemühen, einer „Verunholdung“ unterliegen, die sich bis in die feinsten Verästelungen des Umgangs mit Alter als Defektorientierung ausweist. Soziologisch gesehen ist diese Verunholdung so etwas wie eine Ent-Sorgung, die auf Sorgen basiert, die ein defektologischer Ansatz erst erzeugt.

Freilich können dem Defektologen, der Defektologin soziologische Überlegungen ziemlich gleichgültig sein. Deswegen bietet sich an, eine Übersetzungsleistung ins Ökonomische zu vollziehen.

Defektorientierung kostet ein Heidengeld. Die strategische Prävention gegen die somatische Prävention der Körper, die sozial durch ein Nicht-Mehr überzogen werden, ist, so denke ich, preiswerter (wenn auch nicht: leichter) zu haben. Prävention, bezogen auf ein sozial generiertes Altersbild, das müsste sich machen lassen – in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, als Idee einer konzertierten Aktion, die in Bezug auf das Artefakt defektes Alter nachstellt, was im Bereich der Arbeit mit Behinderung schon längst geschehen ist: als Chance lebenswerten Lebens zu begreifen, was eine hilflose Medizin als Defekt definiert.

Diese Medizin, diese Pflege profitieren von der immer wuchtiger werdenden Alterspyramide. Für sie ist es günstig, mit klinischen Identifizierungen zu arbeiten. Das reicht von Multimorbiditätsberatung über Soziotherapie und Psychosomatik bis hin zur psychosozialen Patienten- und Angehörigenbetreuung. Was dabei entsteht, das ist eine Expertokratie der Demenz und ihrer Behandlung, die sich nicht zum kleinsten Teil selbst ernennt.

Es wäre aber nicht schlecht (und vor allem auch: nicht unwirtschaftlich), dieser defektorientierten Expertokratie Experten zur Seite zu stellen, die etwas von der sozialen Konstruktion des Alters verstehen.