berliner szenen Hauptstadtwerdung

Es geht voran

Am Dienstag, den 18. Juni 2002, um 15.32 Uhr wurde im vierten Stock des taz-Gebäudes in der Kochstraße 18, ganz hinten Folgendes gedacht: Scheiße, ist das heiß! Da dieser Gedanke aber noch nicht ganz reicht, um diesen Platz hier zu füllen, müssen wir noch mal kurz auf das 20-jährige Abiturstreffen vom vergangenen Wochenende in der schönen Landeshauptstadt Kiel zu sprechen kommen. Dort nämlich ergab sich amtlich: Die Berlin-Klischees sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.

Wie geht’s dir? Was machst du? Wo lebst du? Antwortet man auf die letzte dieser Fragen wahrheitsgemäß mit Berlin, folgt beim Gegenüber in der Regel ein anerkennendes Nicken. Höhere Aufmerksamkeitswerte hatten nur noch die Dominikanische Republik und Australien. Mainz, Stuttgart, Hamburg und Flintbek fielen als Wohnorte dagegen deutlich ab.

Interessant ist aber, dass Berlin inzwischen für etwas ganz anderes steht als zu der Zeit, als die ersten Mitglieder des Kieler Abi-82-Jahrgangs hier hingezogen sind. Damals war Berlin ein Synonym für Kreuzberg. Es war die Stadt, in der man anders leben konnte, wenn man denn anders leben wollte. Heute glauben alle, man habe es zu etwas gebracht, nur weil es einen an die Spree verschlug. Statt alternativem Leben werden Wichtig-wichtig-Jobs assoziiert. Unter den Berlin-Konnotationen finden sich eher Architektur als Subkultur, eher Metropole als Nische, eher Gerhard S. als Christiane F. Tja, und wenn man behauptet, das Schöne an Schöneberg sei gerade die Provinzialität, glaubt einem in der Provinz niemand.

Will sagen: Die Hauptstadtwerdung scheint voranzugehen. Vielleicht noch nicht in Berlin selber. Aber in Kiel. Immerhin.

DIRK KNIPPHALS