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: Zuwanderung im Wahlkampf: Mehr Selbstvertrauen, bitte

Das Zuwanderungsgesetz ist unterzeichnet – steht nun ein Ausländerwahlkampf ins Haus? Die Kirchen, manche Linke, sogar die Wirtschaftverbände und die FDP warnen die Union davor, mit der Zuwanderung Wahlkampf zu machen. Ist das berechtigt – oder übertrieben?

 In der Tat spricht manches für diese Warnungen – vor allem die Union selbst. Vor gut einem Jahr schien sie noch einigermaßen willig, ihren alten Ideologieschrott, den ewigen Slogan „Wir sind kein Einwanderungsland“, endlich zu entsorgen. Doch seitdem wurde die Partei von Monat zu Monat dümmer. Je näher der Wahlkampf rückte, umso verbissener suchte sie nach störenden Details in dem rot-grünen Gesetz. Das war gar nicht so einfach. Denn Schily hat dieses Gesetz mit der klaren Taktik verfertigt: so viel Kompromiss wie möglich. Das war ein Lerneffekt aus dem Debakel der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die Rot-Grün 1999 vergebens solo über die Bühne bringen wollte. Kurzum: Die Union scheut den Kompromiss, sie ist auf der Flucht vor der besseren Erkenntnis. Das ist immer gefährlich. Hinzu kommt die populistische Versuchung. Zur Erinnerung: Kohl hat 1983 mit der Parole Wahlkampf gemacht, die Zahl der Arbeitslosen und der Ausländer zu halbieren.

 Und trotzdem gibt es derzeit keinen Grund zum Alarmismus. Die reflexhafte Warnung ist blind für die realen Kräfteverhältnisse. Denn Stoiber hält sich bislang eisern an seinen Wahlkampfkurs, der strikt in die Mitte zeigt. Damit trifft er zielgenau die SPD, die ihn zu gern als rechten Flügelmann angreifen würde. Die Union wird es sich daher sehr gut überlegen, ob das Ausländerthema das Risiko wert ist, der SPD doch noch ihren Lagerwahlkampf zu schenken.

 Der wichtigste Grund ist freilich: Rot-Grün hat nicht nur die besseren Argumente, sondern auch mehr, viel mehr Verbündete: Kirchen, Gewerkschaften und Unternehmer. Die Union hat – niemand. Auch deshalb ist die reflexhafte Mahnung falsch: Sie suggeriert, dass die Union, falls sie auf Ressentiments setzt, automatisch gewinnt. So ist es nicht: Der aufgeklärte Teil der Gesellschaft ist stärker und größer, als es diese Mahnungsrhetorik vermuten lässt.

 Die kritische Öffentlichkeit muss mit gespitzten Ohren verfolgen, was die Union sagt. Wenn von dort ausländerfeindliche Töne kommen, muss sie reagieren: schnell und eindeutig. Aber dann, nicht vorher. Wer Alarm ruft, wenn das Feuer noch nicht in Sicht ist, schwächt sich ohne Not selbst. STEFAN REINECKE