zukunft des nahverkehrs
: MARTIN GEGNER über die verfallenden Verkehrsformen im Berliner Untergrund

Dem Nahverkehr mangelt es an einer Kultur des öffentlichen Lebens

„Fahrt alle Taxi“ war der Titel eines Kommentars von Andreas Knie, Techniksoziologe an der TU Berlin, an dieser Stelle im Februar, anlässlich des 100sten Jubiläums der Berliner U-Bahn. Die These: Die neue, individualisierte Gesellschaft benötigt keine Massentransportmittel mehr. Die ökonomischen Daten (U- und S-Bahn kosten den Steuerzahler jährlich eine Milliarde Euro) spiegelten das Unzeitgemäße dieses Kolosses wieder. Knies Folgerung: „Überdimensioniert, völlig falsch konstruiert und vor allem viel zu teuer kommt die U-Bahn heute als Relikt des Industriezeitalters daher.“ In Reaktion auf diese streitwürdige These startet die taz nun eine Serie – immer samstags –, in der Verkehrspolitiker und -experten über die Zukunft des Nahverkehrs debattieren.

Berlin verfügt mit U-Bahn, Bussen, Tram und S-Bahn über ein reichhaltiges Angebot an öffentlichem Nahverkehr. Das finden die meisten Berliner gut, vor allem aber die Touristen. Dennoch haben die Nahverkehrsbetriebe, BVG und S-Bahn GmbH, ein zunehmendes Imageproblem. Beide Unternehmen sind staatlich hoch subventioniert und trotzdem teuer für die Kunden. Der spezielle Charme des BVG-Personals macht es zudem schwer, sich als Fahr-„Gast“ zu fühlen.

Das eigentliche Problem des ÖPNV ist jedoch die zunehmende Privatisierung durch seine Nutzer. In der U-Bahn trifft der Passagier auf lautstarke Mobiltelefonierer, in sich gekehrte Walkmanhörer und zuweilen schlecht geduschte Arbeitspendler. Eine unfreiwillige Gesellschaft, die so viel fremde Privatheit bietet, dass man ihr nur mit ähnlichen Schutzmaßnahmen begegnen möchte. Die Folge ist: Niemand, der nicht aus Zeit- oder Kostengründen U-Bahn fahren muss, tut dies freiwillig. Trotz Verkehrsinfarkt steigen die Berliner um auf individuelle Verkehrsmittel wie Fahrrad oder Auto. Pöbeleien und Bedrohungen, aber auch unerwünschte Musikdarbietungen und Straßenzeitungsverkäufer mit der immer gleichen Leier muss man im Auto nicht ertragen. Dafür stellt sich so mancheR lieber täglich in den Stau.

Was dem öffentlichen Nahverkehr fehlt, ist eine Kultur des öffentlichen Lebens. In London herrscht, trotz weitaus schnellerem Tempo der Reisenden – niemand würde dort wie die Berliner auf die Idee kommen, auf der Rolltreppe stehen zu bleiben – und eines schlechteren technischen Zustands der Tube, ein zivilisierterer Umgang. In Großbritannien ist der „Passenger“ freundlich distanziert. Eine Kultur des Miteinanders, die den Unterschied zwischen einer wirklichen und einer Möchtegern-Metropole wie Berlin deutlich macht.

Dass im Berliner Untergrund die Verkehrsformen verfallen, ist natürlich nicht nur ein Problem der BVG. Vielmehr leidet die Stadt, wie auch der Rest der Republik, an einem zunehmend gestörten Verhältnis der BürgerInnen zum öffentlichem Raum.

Der wird mehr und mehr videoüberwacht und verwahrlost dennoch. Die gesellschaftliche Teilhabe in der räumlichen Dimension, die Unmittelbarkeit der städtischen Kommunikation, das „Dabeisein“, wird zu einer Ware. Wo gesellschaftliche Teilhabe zum Gegenstand betriebswirtschaftlicher Kostenmodelle herunterdefiniert oder gleich komplett an elektronische Medien delegiert wird, zieht die Utopie einer „geschlossenen Gesellschaft“ herauf, die sich nur noch in privaten oder teilöffentlichen Konsumräumen manifestiert.

Dass der ÖPNV in einem solchem Klima der „zerfallenden Öffentlichkeit“, wie es der amerikanische Soziologe Richard Sennett nennt, nur noch als Problemfall wahrgenommen wird, verwundert nicht. Bedauerlich ist, dass sich die BVG mit der ihr zugeschriebenen Rolle als Notnagel abfindet. Statt der Qualität steigert sie nur jährlich die Preise. Innovation bedeutet für die Verkehrsbetriebe lediglich, den automatisierten Fahrbetrieb einzuführen. Die Kunden hingegen wünschen sich Umfragen zufolge mehr Personal auf den Bahnhöfen (und Fahrkartenautomaten, die funktionieren). Mit Sicherheit kann die BVG nicht die „zerfallende Öffentlichkeit“ retten. Sie sollte diesen Prozess aber nicht noch durch unangenehme Raum- und Servicegestaltung verstärken. Vielmehr müsste sie mit einer Neudefinition ihrer Angebote und Räume den differenzierten Ansprüchen der potenziellen Fahrgäste, und das sind eigentlich alle Bewohner Berlins, gerechter werden. Die Einrichtung von Raucherzonen, Waggons nur für Frauen und Ruhebereichen in den Zügen wären ein Schritt in die richtige Richtung. Auch die attraktivere Gestaltung der Bahnhöfe (z. B. in der Art des werbungsfreien U 2-Bahnhofs Alexanderplatz), könnte dem Wohlfühlfaktor der Fahrgäste förderlich sein. Statt weiter einen aussichtslosen Kampf gegen Graffiti zu führen, könnten die Verantwortlichen ihre Züge auch endlich legal bemalen lassen. Auf eine solche Anfrage während eines BVG-Internet-Chats dekretierte U-Bahndirektor Deinhardt im Februar: „Graffiti ist keine Kunst, sondern Sachbeschädigung.“

Statt mit der potenziellen Kundengruppe ins Gespräch zu kommen, provoziert die BVG die Kreativrebellen weiter, sich mit ihren Tags auf Fenstern und U-Bahn-Sitzen auszutoben. Das gefällt auch Fahrgästen nicht. Ebenso wenig die Aussicht, deswegen bald in videoüberwachten Zügen durch Berlin zu fahren. Eines ist sicher: Ohne eine grundlegende Veränderung hat der ÖPNV keine Chancen, neue Freunde zu gewinnen. „Mehr Licht“ im Tunnel reicht nicht.

Der Autor ist Politologe und Mitarbeiter der Projektgruppe Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin. Nächste Woche: Michael Cramer, Bündnis 90/Grüne, über die Ver-Öffentlichung des individuellen Verkehrs.