Der Erosion der Visionen nachspüren

Rare Fundstücke aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Mit seiner Reihe „Europa ruft“ geht das Metropolis in der ersten Julihälfte frühen Vorstellungen zum Wirtschafts-, Kultur- und Gesellschaftsraum nach

Grenzzäune einreißen, Waren tauschen und „Hand in Hand miteinander leben“

von DAVID KLEINGERS

Über 80.000 Menschen haben gerade in Sevilla demonstriert, als die Europäische Union hinter dem längst üblichen Bürgernähe-Firewall aus Polizei und Paramilitärs einen weiteren Gipfel über die Runden schaukelte. Ganz in der Tradition dieser Spitzentreffen stand auch die Öffentlichkeitsarbeit: Am deutlichsten positionierten sich die beteiligten Staats- und Regierungschefs gegenüber der Presse zur Fußball-WM in Südkorea und Japan, für die Proteste auf den Straßen blieb in offiziellen Stellungnahmen hingegen kaum Platz.

So erscheint Europa 2002 nicht selten als ein Großprojekt, das en detail sehr rigide Formen annimmt – und damit ebenso entschlossene Gegenbewegungen hervorruft –, dessen Anspruch auf ideologische Ganzheitlichkeit jedoch keiner der Verantwortlichen so recht formulieren mag. Zwar gibt es Dauerbrenner wie die Osterweiterung, und natürlich finden Alte und Neue Rechte sich und ihr ganz persönliches Alamo im martialischen Konzept der „Festung Europa“ wieder. Aber sonst? Irgendwie kompliziert, irgendwie teuro und irgendwie einfach nur da: Wir sind Europa.

Wer nun dieser Erosion der Visionen nachspüren will, kommt nicht an der „Europa ruft“-Retrospektive im Metropolis vorbei. Gemeinsam mit einem Hauptseminar der Universität hat die Kinemathek Hamburg filmische Fundstücke aus der Nachkriegszeit geborgen, allesamt Belege für die Europa-Euphorie im Zuge des US-amerikanischen Marschallplans. Was sich die Begünstigten von der Aufbauhilfe aus Übersee versprachen, zeigen Kurzfilme wie Freundschaft ohne Grenzen. Unter der künstlerischen Leitung von Jacques Asseo illustrierte Maurice Henry diesen Crashkurs in Sachen Wirtschaftsgemeinschaft: Grenzzäune einreißen, Waren tauschen und „Hand in Hand miteinander leben“.

Der Zweite Weltkrieg taucht in den kurzweiligen Bildungsfilmen zumeist als diffuser Schrecken auf, den es mittels konzertierter Aktion zu bannen gilt. Neben den Planspielen zwischen Wettbewerb und Wohlfahrt bricht sich dabei immer wieder eine seltsam anrührende Begeisterung für das Europa heute Bahn. Im gleichnamigen Film etwa soll der munter reisende Moderator aus Deutschland sein Herkunftsland nennen. Die Antwort ist nicht ohne Charme: „Wie soll man das erklären? Ich bin ein Europäer.“

Protagonisten und Adressaten dieser Kampagnen sind zumeist junge Erwachsene, denen hier noch die Abkehr vom zerstörerischen Nationalismus zugetraut wird. In Lasst Europa endlich werden (1952) fordert die Gewerkschaftsjugend neben Vollbeschäftigung ein freies und soziales Europa, wobei der abschließende Fackelzug durch Frankfurt allerdings an ganz andere Aufbruchstimmungen gemahnt.

Aber obwohl Ikonographie und Rhetorik bisweilen ungewollt die verschwiegene Vergangenheit durchblicken lassen, wäre pauschale Polemik fehl am Platz. Die naive Begeisterung für einen Kontinent ohne Grenzen ist jedenfalls weitaus angenehmer als die Faschismus-Apologien des Kalten Kriegs, deren Hochzeit ja erst noch kommen sollte.

Zudem bietet die Reihe mit dem spanischen Spielfilm Welcome Mr. Marschall (1952) ein gleichermaßen seltenes wie faszinierendes Beispiel für europäische Selbstironie. Darin zeigt Regisseur Luis G. Berlanga ein kleines kastilisches Dorf, das sich für den vermeintlichen Besuch einer US-Delegation herausputzt. Da Spanien wegen der Franco-Diktatur vom Marschallplan der USA ausgeschlossen war, ist dieser Film ein wahrhaft mutiges Kabinettstück – welches auf wenig Gegenliebe bei den spanischen Machthabern stieß.

„Uns kommt das alles spanisch vor“ war übrigens ein Alternativtitel des Films. Und ein passenderes Lebensmotto lässt sich für das post-koloniale Europa wohl kaum finden. Denn 1952 sollte die Jugend lediglich lernen, „europäisch zu denken“. Was aber geschieht, wenn die europäische Jugend endlich global denkt, dass haben 80.000 Menschen in Sevilla gezeigt.

Kurzfilme (mit Europa ruft u.a.): Mo, 19.15 Uhr, 4. + 11.7., 17 Uhr; Welcome Mr. Marshall: Di + 9.7., 17 Uhr; Das Bankett der Schmuggler: Mi + 10.7., 17 Uhr; Metropolis