BELGISCHE RICHTER WOLLEN KEINEN NATIONALEN VÖLKERMORDPROZESS
: Urteil okay, Begründung tragisch

Ein belgisches Appellationsgericht hat geschafft, was Belgiens Politik sich noch nicht getraut hat. Ausgehebelt ist das avantgardistische Gesetz von 1993 und 1998, das Belgiens Justiz die universelle Zuständigkeit für die Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen und Völkermord zusprach – Verbrechen also, die ab der kommenden Woche auch in der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes liegen. Die drei Brüsseler Richter entschieden, dass eine Klage unzulässig sei, wenn der Beschuldigte sich nicht auf belgischem Boden befinde.

Der aktuelle Anlass der Entscheidung war die Frage, ob in Belgien ein Strafprozess gegen Israels Ministerpräsidenten Ariel Scharon wegen seiner Rolle bei den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila 1982 eröffnet werden sollte. Allgemein war erwartet worden, dass die Justiz das Verfahren mit Verweis auf die Immunität des Beschuldigten als amtierenden Staatschefs nicht annehmen würde – immerhin hatte im Februar der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag anlässlich eines in Belgien anhängigen Verfahrens gegen einen ehemaligen Außenminister des Kongo entschieden, auch dieser sei durch sein Amt vor der Strafverfolgung durch nationale Gerichte anderer Staaten geschützt.

Doch die Brüsseler Richter gingen weiter. Wenn dieses Urteil Bestand hat, wird es keine Haftbefehle von Belgien aus mehr geben. Damit ist die Anwendung des „Weltrechtsprinzips“, die nationale Strafverfolgung von Verbrechen gegen internationales Recht, in Belgien praktisch nicht mehr möglich. Das ist auch insofern tragisch, als das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH), das am 1. Juli in Kraft tritt, den nationalen Gerichtsbarkeiten auch in Drittstaaten Vorrang vor dem IStGH gibt. Belgiens Richter demonstrieren die Neigung vieler Nationalstaaten, künftig alles an den IStGH abzuschieben – eine Umkehrung des Komplementaritätsprinzips, die nicht funktionieren kann. So überschattet das belgische Urteil schon jetzt den 1. Juli, der eigentlich ein Meilenstein im Kampf gegen die Straflosigkeit werden sollte. BERND PICKERT