… und raus bist du!
: taz-Debatte „Berlin nach Pisa: Wo bleibt die Chancengleichheit?“ (Letzter Teil)

Heterogenität ist normal. Von SANEM KLEFF

Nicht erst seit den Ergebnissen der Pisa-Studie ist klar: Kinder aus armen und eingewanderten Familien haben schlechte Karten im deutschen Bildungssystem. In Berlin besuchen sie vor allem Kitas und Grundschulen in den Innenstadtbezirken. Was tun mit diesen Bildungseinrichtungen? Wie können sie allen Kindern gleiche Chancen eröffnen? Diesen Fragen widmete sich zwölf Wochen lang eine Debattenserie der taz. Sie wird unter anderem in dem Dossier „Pisa liegt in Deutschland“ zu finden sein, das ab dem 15. Juli beim taz-Archiv zu haben ist.

Seit Pisa wissen wir: Deutsche Schulen halten nicht, was sie versprechen! Nun hat die hektische Suche nach den Gründen des Versagens begonnen. Großer Beliebtheit erfreut sich die Erklärung, die „Ausländer“ seien die Ursache des Problems. Doch das ist falsch.

Die getesteten Schüler der Pisa-Studie wurden in drei Gruppen unterteilt, je nach dem, ob kein, ein oder beide Elternteile im Inland geboren wurden. Die Testergebnisse dieser drei Gruppen können somit getrennt von einander international verglichen werden. Bei allen drei Gruppen schneidet Deutschland unterdurchschnittlich ab. Am schlechtesten jedoch bei der Gruppe der Kinder mit zwei ausländischen Elternteilen.

Pisa belegt lediglich, was wir eigentlich anhand der jährlichen Schulabschlussstatistiken der Bundesländer schon seit Jahrzehnten wissen können: Rund ein Drittel der Kinder mit Migrationshintergrund verlässt die Schule ohne Abschluss. Ein weiteres Drittel erreicht nur den Hauptschulabschluss. Vor allem die Jungen sind die Verlierer.

Kinder aus Migrantenfamilien unterscheidet am augenfälligsten ihre Muttersprache von den deutschen Schulkameraden. So erscheint es auf den ersten Blick folgerichtig, sich auf die Sprachkompetenz zu beziehen. Erneut wird nun darum gestritten, ob und wie die nichtdeutsche Erstsprache in den Lernprozess einbezogen werden muss, oder ob nicht gerade dies das Erlernen der Mehrheitssprache Deutsch erschwert.

Dieser Streit wird ideologisch geführt, in dem er die Ursachen auf kulturelle und ethnische Besonderheiten der Kinder reduziert. Pisa aber hat gezeigt: Unser Bildungssystem verstärkt die soziale Segregation und benachteiligt somit deutlich die unteren Schichten. Die Herkunft aus einem armen Elternhaus reduziert die Bildungschancen eines Kindes, egal ob deutscher oder nichtdeutscher Herkunft, mehr als jeder andere Faktor. Dies hat auch die Sprachstandserhebung „Bärenstark“ in Berlin bewiesen. Familien mit Migrationshintergrund gehören heute immer noch überdurchschnittlich häufig den untersten sozialen Schichten an. Somit tragen ihre Kinder und Enkel das größte Risiko zum Scheitern. Es erhöht sich, wenn sie ohne ausreichende Deutschkenntnisse eingeschult werden, die Schule genau diese aber hartnäckig voraussetzt. Jungs kommen mit diesen Umständen nachweislich noch schwerer zurecht als Mädchen.

Gegenmaßnahmen müssen deshalb dem Abbau aller drei Risikofaktoren dienen. Es ist notwenig, sich von der Vorstellung „eine Schule – eine Erstsprache“ zu verabschieden. Sie hat immer weniger mit der Realität unserer Gesellschaft zu tun, in der in wenigen Jahren 30 Prozent aller Erstklässler eine nichtdeutsche Erstsprache mitbringen werden. Ein Patentrezept für die Vermittlung der Erst-, Zweit- und Fremdsprachen gibt es allerdings nicht.

Wenn alle Kinder eine nichtdeutsche Erstsprache mitbringen, wie das an einigen Schulstandorten etwa in Kreuzberg oder Nord-Neukölln der Fall sein könnte, bietet sich eine durchgängig zweisprachige Erziehung an. Eine Schülerschaft, die sich zur Hälfte aus Kindern deutscher und einer nichtdeutschen Erstsprache zusammensetzt, verlangt hingegen nach einem Sprachkonzept, wie es die „Staatlichen Europa Schulen“ erfolgreich praktizieren. An den meisten Schulen werden allerdings weiterhin Kinder mit mehreren Erstsprachen beschult. Hier können die nichtdeutschen Erstsprachen nur in einem geringeren Umfang in den Lernprozess einbezogen werden. Der Schwerpunkt muss auf einem einsprachigen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ) liegen.

Diese unerlässliche Qualifikation besitzen unsere Schulen aber nicht. Woher sollten sie auch? Niemand wurde dafür jemals ausgebildet. Die Lehrerinnen und Lehrer müssen mit viel Eigeninitiative eigene Materialien entwickeln und zusehen, wie sie die Situation irgendwie meistern. Bis heute wurde DaZ nicht in die Ausbildung der Pädagogen aufgenommen. Ein seit wenigen Jahren obligatorisches DaZ-Seminar im Umfang von sechs Zeitstunden kann nur wohlwollend als ein erster Schritt in die richtige Richtung gewertet werden. Die Ausbildung der Lehrerinnen, aber auch der Erzieherinnen, muss endlich entsprechend geändert werden.

Dabei müssen mehr Männer einbezogen werden. Offensichtlich brauchen Jungen männliche Ansprechpartner. In den heutigen Kindergärten und Grundschulen mit nahezu ausschließlich weiblichem Personal fehlen sie. Deshalb müssen mehr Männer mit und ohne Migrationshintergrund in diesen Bereichen eingestellt werden.

Auch wenn es altmodisch erscheint: Damit Kinder aus unteren sozialen Schichten einen ihren individuellen Fähigkeiten entsprechenden Schulabschluss erreichen können, muss die öffentliche Schule Defizite ihrer frühkindlichen Erziehung gezielt ausgleichen. Der Tipp, die Eltern sollten sich gefälligst selbst darum kümmern, hilft nur bedingt weiter. Denn sie verfügen nun mal nicht über die notwendigen Voraussetzungen. Viel sinnvoller ist es, in den Kindern von heute die Eltern von morgen zu sehen und sie entsprechend zu fördern.

Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien benötigen mehr persönliche Zuwendung und Förderung ihrer Grundkompetenzen als Mittel- und Oberschichtskinder. Das kostet mehr Zeit. Mehr Zeit für das einzelne Kind kostet wiederum Geld. Geld für eine qualifizierte frühkindliche Erziehung in Kindergärten, für die Entwicklung interkultureller Kompetenz, für den Ausbau von Ganztagsschulen, für kleinere Lerngruppen, kurz: für mehr Erwachsenenminuten pro Kind. Dann, und nur dann, können auch vielfältige (Mehr-)Sprachentwicklungskonzepte bedarfsgerecht und erfolgreich umgesetzt werden.