Der Urwald vor der Haustür

Im Nationalpark Bayerischer Wald entwickelt sich die Natur seit 30 Jahren nach ihren eigenen Gesetzen. Erfahrbar wird, dass nicht nur das Gesunde für den Gesamtorganismus unverzichtbar ist, sondern auch das Kranke und Tote. Besuch bei Bäumen

von ANNETTE JENSEN

Bis zu 40 Meter lange Baumstämme liegen wie Mikadostäbe übereinander. Manche haben zersplitterte Stümpfe in der Erde zurückgelassen, andere beim Sturz mit den Wurzeln Felsbrocken herausgerissen. In den Kratern wuchern Farne, Lilien, Vogelbeeren und winzige Bäume; an einigen Stellen haben sich kleine Tümpel gebildet. Das tote Holz ist ochsenblutbraun bis honiggelb, morsch, bröselig oder faulig. An vielen Stellen kriecht eine üppige Vegetation darüber, und hier und da hat sich ein Fichtenschößling eingenistet. Kein Durchkommen – selbst das Rotwild wagt sich nicht mehr hinein in dieses Dickicht: Ein Luchs könnte oben auf einem abgebrochenen Stamm lauern.

Was wie ein Urwald wirkt, war bis vor 30 Jahren ein gut gepflegter Forst. Seither gelten die Regeln des Nationalparks Bayerischer Wald: Die Natur sich selbst überlassen. Alles, was Sturmböen umwerfen oder Schneemassen erdrücken, bleibt liegen. Überzählige Rehe gibt es nicht. Und wenn Millionen von Borkenkäfern angreifen und hunderte Hektar Fichtenwald innerhalb weniger Wochen absterben, lässt man auch das geschehen.

Oben am Lusen, auf 1.373 Meter Höhe, schweift der Blick über eine buckelige Landschaft; vor allem im Osten scheint die Welt fast nur aus bewaldeten Hügeln zu bestehen. Weit hinten lässt sich das Donautal erahnen, und bei Föhnlagen sind sogar die Alpen zu entdecken. Die nahe Umgebung aber ist bei flüchtigem Hinsehen nichts als aschgrau. Hier hat vor fünf Jahren das stattgefunden, was Einheimische als Katastrophe bezeichnen – und was durch menschliches Eingreifen hätte verhindert werden können. Selbst gesunde Bäume hatten keine Chance gegen die Massenvermehrung der unscheinbaren, etwa vier Millimeter langen Borkenkäfer, die sich in fast jede Rinde bohrten. Ihre Larven durchfraßen die Wasseradern, und Tage später färbten sich die Nadeln rotbraun und rieselten zur Erde. Die sind längst verwest, doch viele nackte Stämme staken noch immer in den Himmel. Ein apokalyptisches Bild. „Das Problem ist nicht der Wald, sondern wie der Mensch mit diesem Bild zurechtkommt“, sagt Josef Wanninger. Er arbeitet bei der Nationalparkverwaltung. Bis heute kommen bittere Vorwürfe von den Waldlern, wie sich die Menschen hier in der Gegend nennen. Mancher weint, wenn er hier heraufkommt. Andere sagen: Ihr gehört alle eingsperrt. „Wir leben mit der Natur. Die Bäume erzählen uns manche Geschichte. Man hätte sie nicht einfach so opfern dürfen“, schimpft die Bürgermeisterin von Lindberg, Gerti Menigat.

Lange Zeit gab es die Befürchtung, die Grenzberge zwischen Deutschland und Tschechien würden auf immer kahl bleiben. Doch aus dem abgestorbenen Wald entsteht neues Leben. Vogel- und Himbeerbüsche breiten sich aus, und zwischen den Holzskeletten lugen die kleinen, weißen Blüten des Siebensterns hervor. In der Luft liegt das Gezwitscher von Buchfink, Waldlaubsänger, Baumpieper und Zilpzalp. Vor allem in der Nähe der alten Stämme oder auf abgebrochenen Teilen sprießen kleine Fichten – die einzigen Bäume, die in dieser Region in Hochlagen wachsen können. Aus der Rinde, den Nadeln und Zweigen der toten Ahnen ist eine Mulchschicht entstanden, durchsetzt mit dem Kot zehntausender von Borkenkäfern. „Solche Nährstoffpolster gibt es in diesen Lagen sonst nicht“, erläutert Wanninger einer Besuchergruppe. Außerdem ist an diesen Stellen die dichte Grasschicht verschwunden, die früher fast den gesamten Boden bedeckt hatte und Jungbäumen wenig Chancen zum Durchkommen ließ. Sogar der kahle Stamm selbst hilft dem Nachwuchs weiter: Er schützt ein wenig vor der im Sommer sengenden Sonne und sorgt am Ende des Winters dafür, dass der oft meterdicke Schnee ein paar Tage früher als auf dem übrigen Gelände verschwindet.

Wanninger und seine Kollegen sind überzeugt, dass das, was vor fünf Jahren geschehen ist, der natürliche Verjüngungsprozess eines Nadelwaldes ist. Sicher – auch die Schadstoffe aus der Luft haben die Bäume geschwächt. Hinzu kamen mehrere trockene Sommer, die die Fichten gehörig unter Stress setzten. Doch Borkenkäferkalamitäten riesigen Ausmaßes habe es in der Gegend auch schon vor der Industrialisierung gegeben, argumentiert Wanninger gegen Naturschützer, die die Schuld beim Menschen suchen.

Für Helmut Steininger, Landeschef des Bundes Naturschutz in Bayern, steht dagegen eindeutig fest: „Die Schwefelemissionen sind die Ursache für die Schwächung der Fichten.“ Nur dadurch habe der Borkenkäfer ein so leichtes Spiel gehabt.

Klar ist indes: Wer sich nicht mit einer moralischen Verantwortung für die Vergangenheit auseinander setzen muss, kann sich unbeschwert auf die Gegenwart einlassen. Und genau das will der Nationalpark. Umweltbildung ist ein zentrales Ziel; den Besuchern soll die Natur erlebbar werden. Was der Kreislauf der Ökologie bedeutet, wird hier sichtbar wie in einem Standbild. Nicht nur das Gesunde, sondern auch das Tote und Abgestorbene leisten unverzichtbare Dienste für den Gesamtorganismus.

Werden und Vergehen, Wachsen und Zusammenbrechen gehören untrennbar zusammen. Der Mensch beschränkt sich mit der Rolle des Beobachters – und hat die Chance, zu staunen. Am besonders beeindruckenden Seelensteig unterhalb vom Rachel führt ein Holzweg durch den Wald. Die Besucher schweben gleichsam über dem Boden, sind willkommen und bleiben trotzdem Gäste. Der Wald lebt auch – und vor allem – ohne den Menschen.

Unwillkürlich wandert der Blick in die Zukunft und fragt: Wie wird es sein? Was sich im Wirtschaftswald leicht prognostizieren lässt, bleibt hier Geheimnis. „Ich bin immer wieder erstaunt über die ungeheure Dynamik der Natur“, gesteht der stellvertretende Nationalpark-Leiter Michael Held. Vieles lässt sich auch nicht erklären. Warum zum Beispiel haben einige alte Fichten dem Ansturm der Borkenkäfer im Zentrum der befallenen Gegend am Lusen standhalten können – und warum gerade diese? „Es gab viele Thesen, aber keine ließ sich bestätigen, so Held. „Man lernt Bescheidenheit.“