Berlin Alexanderplatz

Exerzierplatz, Verkehrsknoten, Demotreff am 4. November 1989: Vom königlichen Preußen bis in die sozialistische DDR hat sich der Alexanderplatz als Ort für Alltagskultur behauptet. Drei Annäherungen

Deine Tat für Deine Hauptstadt

Das Schönste am Alex ist der viele Himmel. Allerdings nur, wenn er nicht unter der Kuppel des Fernsehturms hängt. Am schönsten ist der Alex vom Fernsehturm aus. Das farblich voneinander abgehobene Betonpflaster bildet einen sehr dekorativen Strudel um den Brunnen der Völkerfreundschaft. Die Gestaltung des Platzes zwischen 1966 und 1970 war im doppelten Sinne eine Angelegenheit von oben. So stellte man sich die Welt im Jahr 2000 vor, und mit dem Umbau des Platzes kam man dieser schönen neuen Welt ein wenig näher. Fehlten nur noch die Flugobjekte. Menschen waren aus dieser Höhe eine zu vernachlässigende Größe.

Seit es den Alexanderplatz gibt, ist er Teil des Ganzen und Seismograph der Entwicklung Berlins. Ein Ort, an dem sich nicht nur Straßen bündeln. Ursprünglich war er ein Viehmarkt vor dem Königstor, ab dem späten 18. Jahrhundert ein Exerzierplatz, bis er mit dem Bau der Stadtbahn 1882 zu einem Verkehrsknotenpunkt wurde. Wohl jede Epoche hat sich schon einmal an der Umgestaltung des Platzes versucht, keiner ist es vollständig gelungen. Bis in die Zwanzigerjahre kam das Bürgertum maximal bis zum Platz, in Richtung Norden war verbotenes Gebiet, Unorte, Proletarierviertel, Armenhäuser. Ende der Zwanzigerjahre versuchte man sich zum ersten Mal an einer kompletten Umgestaltung. Fertig wurden nur das Alexander- und das Berolinahaus und ein Roman, der das ganze Chaos des Umbaus beschrieb: Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“.

Vor der Olympiade 1936 riss man einen Teil des Georgenviertels, das an den Platz grenzte, ab und baute ein Arbeitsamt und einen Wohnblock für verdiente Kämpfer des Nationalsozialismus. Beides überlebte die Bombennächte nicht. Den Rest besorgte die Hauptstadtplanung unter der Regie Walter Ulbrichts. Das Georgenviertel wurde samt der gleichnamigen Kirche vom Stadtplan getilgt. Zu dieser Zeit stand zwischen den bald auch nicht mehr existierenden Gleisen der Straßenbahn auf dem Alexanderplatz ein Transparent: „Deine Tat für deine Hauptstadt“. Man sollte es wieder aufstellen.

In schöner Dialektik hat sich 1989 die Weite des Platzes gegen die Regierung gerichtet, die ihn zwanzig Jahre vorher in dieser Form anlegen ließ. Am 4. November war genug Raum für annähernd eine Million Leute. Der Alexanderplatz, voll gestellt mit Hochhäusern, wird kein Demonstrationsort mehr sein können, es sei denn, ein unangemeldeter Aufstand wälzte sich durch die Shoppingmalls. Die CDU kann dann getrost, und ohne von Eiern getroffen zu werden, Kundgebungen im privaten Raum organisieren, eingerahmt von Wachschutz.

Der Platz ist nicht schön, aber hat einen Vorzug, den keiner der neuen Orte hat, die in den letzten Jahren um-, aus- oder zugebaut wurden: Er ist kein bisschen künstlich; er ist zum Kotzen authentisch. Alles, was man gerne ausblenden würde und was es in jeder Stadt gibt, die eine Metropole sein möchte – Armut, Arbeitslosigkeit, müde Gestalten, die, von der Arbeit kommend, das öffentliche Verkehrsmittel wechseln, Urin- und Bratwustgeruch, Hunde, Schnorrer und Weltbeglücker –, findet man hier. Der Alexanderplatz ist Zuhause, Umsteigeort und Treffpunkt. Das Beste, was ihm in den letzten Jahren passiert ist, war die Straßenbahn, die jetzt wieder über den Platz fährt. Und in welcher Metropole kann man mitten in der Stadt Basketball spielen? Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre es ein Liegestuhlverleih im Sommer. Wenn es nach den Planern des neuen Alexanderplatzes geht, sollen nur noch die Menschen mit Einkaufstüten übrig bleiben.

Die Regierungen kommen und gehen, Berlin bleibt. Zwar ist die Stadt jedesmal etwas lädiert, aber bisher hat sie sich immer wieder hochgerappelt. Das Gleiche gilt für den Platz. Im Prinzip könnte man sich nach aller Erfahrung beruhigt nach hinten lehnen und abwarten: Versucht’s doch, auch ihr werdet es nicht schaffen. Nur werden die Shoppingruinen einem dann leider den Blick in den Himmel nehmen. ANNETT GRÖSCHNER

Der Kampf um Lufthoheit

Der Alexanderplatz glich einer Wanderdüne. Die Bilder, die sich mit seinem Namen verbanden, wechselten ständig. Als unstetes Etwas kreiste der Name über einer drei Hektar großen Brache, kaum mehr als ein vages Postulat, als Verheißung auf die urbane Kristallisation einer Ideologie, die von sich meinte, den vormals Ohnmächtigen die Macht in die Hände gelegt zu haben.

Nur konsequent, dass seine Neubebauung mit dem 1964 eingeweihten Haus des Lehrers begann. Damals schoss in unserem Kindergarten das Selbstwertgefühl des pädagogischen Personals in ungeahnte Höhen. Noch glaubte man den Schmeicheleien. Noch ließ sich auch diese Spezies, von uns bis dato treuherzig unter „Tanten“ subsumiert, architektonisch bauchpinseln, fühlte sich gerührt, geehrt, weil dieser erste DDR-Wolkenkratzer auch ihnen, als Angestellte des Volksbildungsministeriums, zugeeignet war.

So konditioniert, kam man in die Schule und lernte, dass der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden auf selbigen nur stellte, was allen zum Nutzen gereicht. Einen Fernsehturm etwa, von dem man nicht viel mehr zu sagen wusste, außer dass er nach seinem Moskauer Pendant der zweithöchste in Europa war. Oder ein Warenhaus, das, mit einer Wabenfassade verziert, seit 1970 auf dem Alexanderplatz davon kündete, dass Konsum beileibe kein Grundrecht, sondern lediglich ein staatlicher Gnadenbeweis für ein bienenfleißiges und brav gelebtes Werktätigendasein sei. Doch da war der Sozialismus „made in GDR“ bereits aller visionären Kraft beraubt. Statt „Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“ hieß die Losung nun: „Ich leiste was, ich leiste mir was!“ Ein unverhohlenes Eine-Hand-wäscht-die-andere also, das allerdings unter dem Manko litt, dass es den Regierenden stets an Seife mangelte, um das Volk seinen Wünschen gemäß zu schmieren.

Ein Dilemma, das sich auch auf dem Alexanderplatz manifestierte: Als neue Internationalität wurde notdürftig dekoriert, was doch allein der überlebensnotwendigen Devisenabschöpfung diente. An der S-Bahnbrücke über der Liebknechtstraße warb die Interflug mit einem prosaischen „Europa, Afrika, Asien, Amerika“ für Destinationen, die zu buchen kaum ein eingeborener Passant fähig gewesen war. Und ein paar Meter weiter signalisierte das 123 Meter große Hotel Stadt Berlin, dass das DDR-interne Renommee des Pädagogen im freien Fall begriffen war. Das Haus des Lehrers rutschte an die Peripherie. Was waren schon seine zwölf Geschosse gegen die 39 des neuen Hotels Stadt Berlin? Was, bitte, wog ein braver kommunistischer Menschenerzieher gegen einen Gast aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, der fast jeder volkseigenen Schönheit in den Schoß ejakulieren konnte, weil er seine Rechnung in Dollar oder D-Mark beglich? Früh also schon war der Kampf um Lufthoheit über den Alexanderplatz entschieden.

Und auch am Boden konnte man der Demütigung kaum mehr entrinnen, seit die Weltzeituhr gnadenlos kundtat, was die Stunde dort zu schlagen pflegte, wo man sie wohl nie ticken hören würde können. Eine zynische Zumutung, das Ding, aber endlich ein Ort, an dem der Alex als Platz zu fassen war. Allseits bekannt und einsehbar und damit bestens prädestiniert, paarungswilligen Ostlern als intime Erstbegegnungsstätte zu dienen. Bestellte man potenzielle Bettgenossen oder -genossinnen an dieses Weite und Vielfalt heuchelnde Monument, ließen sie sich aus sicherer Distanz visitieren. Und auch, wenn man bei Regen, Schnee und glühender Sonne hartherzig verladen dort selber stand, schützte das kreisrunde Dach vor noch größerer Pein. Abgesehen davon, dass hier kein verräterischer Blick auf die eigene Armbanduhr vonnöten war, um zu begreifen, dass nicht nur Systeme, sondern auch Menschen einen zuweilen gern verarschen. ANDRÉ MEIER

Autos Autos in Sechserreihen

„Der Verkehrsplatz ist ein neues Bedürfnis. Seine Dimensionen und Formen werden von der Dynamik der Zeit bestimmt. […] Ein solcher Platz wird anders erlebt als der statische Raum des alten Platzes und darf deshalb auch andere Formen haben.“ Das Zitat stammt nicht, wie man jetzt erwarten sollte, vom Berliner Stadtbaurat Martin Wagner, der einst antrat, den Alexanderplatz vom königlichen „Ochsenmarkt“ zum rasanten „Weltstadtplatz“ zu verwandeln. Es stammt von Rudolf Hillebrecht, der so seine Umbauvorstellungen für das kriegszerstörte Hannover begründete. Also nicht Berlin 1929, sondern Westdeutschland 1950, denn da fand sie jetzt statt, die herbeigesehnte Moderne. Sogar in Hannover. Nur bei uns, immerhin Hauptstadt, war wiederaufbaumäßig zuallererst die Stalinallee passiert. Für die man sich Mitte der Sechziger schon mächtig schämte.

Mit dem neuen Alex sollte deshalb alles anders werden. Schluss mit Säulen, Stuck und Porzellanreliefs. Endlich würde auch bei uns die wirklich „neue Zeit“ Einzug halten, mit Waschbeton und Aluminiumfassaden. Ziellos zog ich meine Innenstadtkreise, weil ich süchtig nach Baustellen war: jeder Kran wieder ein Schritt weg von einer Vergangenheit, die mir in jederlei Hinsicht „dunkel“ erschien. Also am liebsten nur noch Glas, in Scheiben so groß wie zehn Tischtennisplatten! Abends trieb ich mich dort rum, wo Leuchtreklamen zuckten (auch wenn sie für Dieselloks, Düngemittel oder das Neue Deutschland warben), und beschloss, Architekt zu werden. Zukunft war schließlich machbar geworden.

Auch als Student auf Berlinbesuch landete ich selbstverständlich am Alex. Mein damaliger Lieblingsplatz war das „Pressecafé“ neben dem Verlagshaus in der Liebknechtstraße, jenes schwebende Lokal, in dem heute vornehmlich Steaks gebraten werden. Ich saß dort nicht wegen des Namens – den fand ich abscheulich, weil er dem einzig wahren und legendären Pressecafé am Bahnhof Friedrichstraße auf höhere Anweisung geklaut worden war. Nein, ich saß dort, weil man durch riesige Panoramascheiben auf die heißeste Kreuzung der Stadt runtersah, auf der es vielspurig auf einen zurauschte wie auf einer Brücke über die Autobahn. Autos in Sechserreihen: der Weltstadtplatz! Mein Gott, ich war zwanzig, auch in der DDR wurde Zukunft inzwischen am „Motorisierungsgrad“ gemessen – und bis zum Club of Rome war noch ein bisschen Zeit.

Klar, heute weiß ich es besser: Nur im Ernst-Reuter-Kreisel ist es gefährlicher als auf diesem Drittelkilometer zu Füßen des größten Döblin-Zitates der Welt. Limousinengerangel auf Leben und Tod. Die sich wahllos dazwischenwälzende Straßenbahn hat alles nur noch verschärft. Trotzdem sei gerade sie in den höchsten Tönen gelobt: Weil alle stadteinwärts führenden Linien einst am Mollknoten weggelenkt wurden, durfte ich täglich mit zahllosen anderen Werktätigen 600 Meter weit zur U- und S-Bahn hasten. Seit der Schienenstrang aufs Neue den Platz überquert, hat eine halbe Million Nordost- und Fernostberliner wieder Direktanschluss ans Hauptnetz gewonnen. Ein ähnlich unschätzbarer Zugewinn ist mir nur noch vom Winter 89/90 erinnerlich, als sich im U-Bahn-Zwischengeschoss urplötzlich die blassblau gekachelten Wände auftaten und – als wäre 28 Jahre lang nichts gewesen – die „Geisterbahn“ U 8 auch für uns wieder dazugehörte.

Warum ich das alles erzähle? Weil ich am Alex besonders schätze, was er seit Martin Wagner und in allen folgenden Varianten immer zuallererst war: ein klug organisierter Knotenpunkt, der die ganze östliche Halbstadt auf sich zieht, durcheinander wirbelt und anschließend neu verteilt. Sein eigentliches Thema ist der Verkehr, sein urbanes Theater ergibt sich daraus. Deshalb sieht er so aus, wie er ist. Eine bestimmte Sorte Touristen landet fast automatisch hier und von den Berlinern jene, die es etwas rauer mögen. Womit sich, nach Rückkehr der Straßenbahn, mein Erneuerungsbedarf für den Alex eigentlich erledigt hat.

WOLFGANG KIL