Würstchen mit Sozialkompetenz

Sind Schüler Trivialmaschinen? Auf diese Vorstellung läuft die allgemeine Klage in Deutschland nach der Pisa-Studie jedenfalls hinaus: Damit mehr herauskomme, müsse man eben mehr hineintun. Doch die Schule ist ersichtlich nicht nur zum Lernen da

Die Leitidee ist, dass Schulen Input/Output-Arrangements seien

von PETER FUCHS

Die Diskussion, die in Deutschland – ausgelöst durch das Pisa-Mythologem – über die Leistungsfähigkeit der Schule geführt wird, läuft deutlich ohne Kontakt mit einer Theorie des Erziehungssystems, insbesondere ohne Kontakt mit theoriegeleiteten Vorstellungen über die Schule ab. Die Leitidee der Diskussion ist offenbar, dass Schulen Input/Output-Arrangements seien, in die von unten Kinder eingedrückt werden, die dann oben als junge, informierte, gesellschaftstaugliche Leute herauskommen – eine Art Wurstmaschine, die nun aus irgendwelchen Gründen nicht mehr richtig funktioniert, also nicht liefert, was sie liefern sollte.

Dieses Modell ist von schmerzlicher, ja von kognitiv ergreifender Schlichtheit geprägt. Es reduziert, was an Schulen geschieht, auf den Aspekt geglückter oder missglückter Wissensvermittlung. Es misst Erfolg beziehungsweise Scheitern daran, ob Wissensbestände, die irgendein Hinze oder irgendeine Kunze für wichtig und richtig hält, abrufbar sind oder nicht. Die Schule erscheint damit (um einen Begriff des Physikers und Kybernetikers Heinz von Foerster zu benutzen) als Trivialmaschine. Das sind Maschinen, die auf bestimmte Inputs unter Ausklammerung interner Informationsverarbeitungsschleifen immer denselben Output produzieren. Im Fall der Schule würde sich, glaubt man den Pisa-entsetzten Leuten, alles verschärfen, insofern die Trivialmaschine Schule auch noch Millionen kleiner Trivialmaschinchen (eben: Kinder) erzeugen würde, für die dasselbe gilt: Sie präsentieren wie auf Knopfdruck gewünschtes Wissen. Auf der Basis dieser Vorstellung wird klar, warum sich jemand aufregen kann, wenn Studien nachweisen, dass das mit dem Knopfdruck nicht überall so klappt, wie erwartet wurde. Bei etwas mehr Gewitztheit könnte man doch aber sagen, dass die Regionen, die erfolgreicher sind als andere (Lettland, Bayern oder so), eben nur mehr Trivialmaschinchen zu bauen verstehen als die weniger erfolgreichen, die allerdings wiederum mehr Nicht-Trivialmaschinen herausgeben, also mehr interessante, überraschungsfähige Leute.

Wie dem auch sei, zu solcher Finesse versteigt man sich in der Diskussion nicht. Man setzt stattdessen auf Reformbemühungen, die sämtlich Neuauflagen vergangener Reformbemühungen sind. Man fügt dem ohnehin quälenden semper reformanda der Schule mehr desselben hinzu. Die Steigerung der Trivialisierung ist offenbar das Ziel, und wahrscheinlich wird sich daran wenig ändern, wenn man darauf aufmerksam macht, dass weder die Schule noch ihre Zöglinge Trivialmaschinen sind. Bezogen auf die Schüler liegt das auf der Hand, und es wäre schlimm, wenn es anders wäre. Und die Schule selbst ist eine multifunktionale Einrichtung der modernen Gesellschaft. In ihr wird eben nicht nur gelernt, was Ferdinand in „Kabale und Liebe“ zu denken vorgibt oder wie Wahrscheinlichkeitsrechnung funktioniert, sondern auch und wesentlich, dass Bauchfreiheit ermöglichende Kurzhemdchen angesagt sind, dass die ironisierende Geringschätzung von Vorgesetzten (hier: LehrerInnen) organisationstypisch ist oder dass Organisationen einen hohen Bedarf an Diskretion (also: Klatsch und Tratsch) pflegen.

Schule ist ein Ort nicht nur der informierenden, sondern auch der uniformierenden Sozialisation. Sie stellt sicher, dass die Individuen, die sie verlassen, erwartbar ähnliche Individuen sind, die über einige Grundfertigkeiten hinaus insbesondere soziale Kompetenz, soziales Orientierungsvermögen erworben haben – sei es im Blick auf die Vermeidung von Peinlichkeiten, sei es hinsichtlich der Anbagger-Strategien in Vorbereitung von Intimkontexten, sei es im Hinblick auf Organisationstauglichkeit. Letztere hängt zum Beispiel daran, dass jemand informale (verdeckte, inoffizielle) Kommunikation von formaler (entscheidungs- und weisungsorientierter) Kommunikation zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen weiß, mithin: erwünscht intrigenfähig wird. Anders wären weder Politiker- noch Wissenschaftlerkarrieren möglich.

Die Raffinesse, zu der die laufende Diskussion nicht durchdringt, besteht darin, dass die Schule lebens- und karrierewichtige Fertigkeiten massenweise und beiläufig unabsichtlich vermittelt. Die Lebenspraxis fällt als Abfallprodukt an (und ist doch das Entscheidende), wohingegen das Erziehungsgeschäft selbst, die gleichsam offiziöse Funktion der Schule, demgegenüber eher marginal erscheint. Das drückt sich darin aus (wenn man einem Vorschlag von Niklas Luhmann folgt), dass die Einheit des Erziehungssystems nicht durch das Erziehen gewährleistet ist, sondern nur durch die kommunizierte gute Absicht, richtig zu erziehen. Man betritt Orte, die dies signalisieren (zum Beispiel Klassenräume), und weiß, dass hier erzogen wird, dass also die LehrerInnen (und die Curricula) darüber entscheiden, was an der unentwegten Veränderung von Personen tatsächlich erziehungsbewirkte Veränderungen sind und was nicht. Das Kind lernt, wie es – obwohl es träumend im Unterricht dahinvegetiert – gleichwohl aufmerksam dreinschauen kann. Und der Lehrer wird es, wenn er es denn bemerkt, kaum zu dieser Kunst beglückwünschen. Das Kind lernt, auf Fragen, deren Antwort der Lehrer bizarrerweise schon kennt, erwartungsgemäß zu antworten – und der Lehrer beglückwünscht sich selbst. Das Kind lernt, Rauchen sei gesundheitsschädlich, und lernt damit auch, Orte und Gelegenheiten zu finden, es trotzdem zu tun – mit klammheimlichem Vergnügen, dass es bei solchen Taten ebenfalls (und lebensförderlicherweise) lernt.

Kurz: Das Pisa-Entsetzen speist sich aus einer nahezu unbegreifbaren (theoriefernen) Blickverkürzung, die die Schule nicht begreift als hoch komplexen Sozialisationsraum, in dem die Vermittlung gewünschten Wissens auch eine, aber womöglich nicht die entscheidende Rolle spielt. Schule ist unterkomplex verstanden, wenn man sie auf diese Funktion reduziert, und ebenso unterkomplex wäre die Tätigkeit des Lehrpersonals konzipiert, wenn es nur damit beschäftigt wäre, Lehrpläne durchzupauken, Prozentrechnung, die Bismarck’sche Bündnispolitik oder die Import/Export-Bilanz Bulgariens zu vermitteln.

Die Sicht auf die Schule als Trivialmaschine begünstigt zugleich ein Gesellschaftsbild, das die Funktion der Schule in der Anbahnung (positiver) Karrieren sieht, auch dies ein grotesk pointiertes Bild, das die Schule nicht als für Individuen lang währenden komplexen Lebensraum begreift, in dem man zum Beispiel auch lernt, sich über solche Ideen zu mokieren.

Man kann über die Schule vieles sagen, aber man tut ihr unrecht, wenn man sie identifiziert, womit sie sich selbst identifiziert: mit absichtsvoller Erziehung. Die Schule ist alles andere als eine Wurstmaschine. Das kann man heute theoretisch und empirisch wissen. Die Aufregung ist schlicht schleierhaft.