Für einen Mord zweimal anklagen

Die britische Regierung will das Strafrecht umfassend reformieren. Kritik von Bürgerrechtsorganisationen

DUBLIN taz ■ Das hätten sich die Tories nie getraut. Die Gesetzesvorlage des britischen Innenministers David Blunkett zur Strafrechtsreform ist so weitreichend, dass manch Recht der Angeklagten, das bisher als unantastbar galt, auf der Strecke bleibt. Abgeschafft wird die „double jeopardy“, wonach man für dasselbe Verbrechen nicht zweimal angeklagt werden kann. Das soll in Fällen von bewaffnetem Raubüberfall, Vergewaltigung, Mord und Totschlag auch rückwirkend gelten, wenn aufgrund früher unbekannter Methoden wie zum Beispiel DNS-Untersuchungen neue Beweise auftauchen.

Wenn es nach Blunkett geht, soll es bei Betrugsprozessen keine Geschworenen mehr geben, weil die Beweislage oftmals zu kompliziert sei. In anderen Verfahren, wo es nach wie vor Geschworene gibt, sollen diese über frühere Verurteilungen des Angeklagten informiert werden. Blunkett misstraut Geschworenen, weil er glaubt, dass sie öfter freisprechen als Richter. Ursprünglich wollte er deshalb Schwurgerichte ganz abschaffen, doch er stieß damit auf Widerstand in der eigenen Partei.

Das Recht auf Aussageverweigerung hatte bereits Blunketts Vorgänger, der jetzige Außenminister Jack Straw, abgeschafft. Eine unabhängige Kommission wird sich künftig um Verbrechensopfer und Zeugen kümmern, damit sie nicht vor dem Prozess abspringen. Voriges Jahr mussten mehr als 30.000 Verfahren eingestellt werden, weil Opfer oder Zeugen nicht mehr aussagen wollten. Sie fürchteten sich entweder vor Racheakten oder vor dem Kreuzverhör.

Die Gesetzesinitiative mit dem Titel „Gerechtigkeit für alle“ will die Schere zwischen angezeigten Straftaten und Verurteilungen verringern. Bisher kommt es zum Beispiel nur bei einer von 13 Vergewaltigungen zu einer Verurteilung. Außerdem soll der Prozess von der Anklage bis zum Urteil beschleunigt werden. Anwälte sollen künftig für Prozessverschleppung bestraft, bei zügiger Abwicklung hingegen belohnt werden. Der Rechtsanwalt Simon Morton hält das für Unsinn, weil die meisten Verfahren wegen fehlender Polizeigutachten verzögert werden. „Es ist keine Lösung, mehr Gefängnisse und mehr Gerichte zu bauen oder Abendschichten bei Gericht einzuführen“, sagt er. „Wenn die Polizei mehr Geld und mehr Leute hätte, würde das System schneller funktionieren.“

Bürgerrechtsorganisationen beklagen, dass mit der Reform das Prinzip, wonach es besser sei, einen Schuldigen laufen zu lassen, als einen Unschuldigen zu verurteilen, umgekehrt werde. Allerdings sieht Blunketts Plan auch vor, die Gefängnisse zu entlasten. Kein Land in Europa hat mehr Inhaftierte, wenn man es auf die Bevölkerung umrechnet.

Der Gesetzesvorschlag enthält zwei Optionen: „Haft plus“ und „Haft minus“. Beide gelten für Gefängnisurteile bis zu einem Jahr. Im ersten Fall soll der Verurteilte nach drei Monaten entlassen werden und den Rest der Zeit mit gemeinnütziger Arbeit verbringen, im zweiten Fall muss er gar nicht erst ins Gefängnis. Für die Umsetzung des Programms fehlt allerdings das Geld, es kann frühestens nach den nächsten Wahlen bereitgestellt werden. Bis dahin bleiben Großbritanniens Gefängnisse hoffnungslos überfüllt. RALF SOTSCHECK