Der Fehler als System

Die Neptunes sind das bedeutendste Produzententeam der Gegenwart. Einer ihrer Hits läuft garantiert in diesem Augenblick im Radio. Doch als HipHop-Trio N.E.R.D. sitzen sie zwischen allen Stilen: Zu sperrig sind ihre Songs für den Mainstream

von HARALD PETERS

Daran, wie viele Hits er dieses Jahr schon geschrieben und produziert hat, kann sich Pharrell Williams nicht mehr erinnern. Aber es waren wohl einige. Immerhin weiß er zu berichten, dass er in den vergangenen Monaten allein in den USA 17 Millionen Platten verkauft hat. Zwar ist nicht klar, wie sich die 17 Millionen im Einzelnen zusammensetzen, doch dürften Titel von Britney Spears („I’m A Slave 4 U“), *NSync („Girlfriend“), No Doubt („Hella Good“) und Busta Rhymes („Pass The Courvoisier“, „What It Is“) bei der Berechnung berücksichtigt worden sein. Noch nicht berücksichtigt wurden dagegen Nellys „Hot In Here“, Britneys „Boys“, Ushers „U Don’t Have To Call“ und „Work It Out“ von Destiny’s-Child-Sängerin Beyoncé Knowles – und das sind nur die prominenteren Arbeitsbeispiele aus dem jüngsten Ausstoß des Produzenten.

Dösen im Nebenzimmer

Seine Beiträge zum Austin-Powers-Soundtrack, dem Album des Rappers Noreaga, dem Album der Sängerin Kelis und dem Solo-Album von *NSync-Sänger Justin Timberlake dürften die bisherige Bilanz in den nächsten Monaten noch entscheidend aufbessern, so dass Pharrell Williams gegen Ende des Jahres von 30, wenn es gut läuft, vielleicht sogar von 40 Millionen verkauften Platten sprechen kann, an denen er beteiligt war. Dass ist nichts, was ihn beunruhigen würde. Er nimmt einen Schluck Wasser, streckt sich auf dem Hotelsofa aus, blickt auf die Skyline von Köln und steckt sich einen Finger ins Ohr. Es ist zwölf Uhr morgens. Der Mann auf dem Sofa ist neben Chad Hugo nicht nur die eine Hälfte der Neptunes, des wohl bedeutendsten Produzententeams der Gegenwart, sondern neben Shay auch ein Drittel der Neptunes-Band N.E.R.D.. Nachdem N.E.R.D. ihr aktuelles Album „In Search Of …“ vor einigen Monaten bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres – in einer veränderten Fassung – in Europa veröffentlicht haben, sollen sie nun ihre neue Single „Rockstar“ bewerben. Doch Chad Hugo weilt bei Frau und Kindern in den Vereinigten Staaten, N.E.R.D.-Rapper Shay hält in der Suite nebenan ein Nickerchern und Pharrell Williams liegt immer noch auf dem Sofa und steckt sich den Finger ins Ohr.

Die tiefere Bedeutung dieser Geste ist schwer zu ermessen. Sicher ist hingegen, dass die Geschichte der Neptunes vor über zehn Jahren in Virginia Beach, Virginia, beginnt. Williams und Hugo besuchen damals beide dieselbe High School und lernen sich in der siebenten Klasse in der Jazzband der Schule kennen. Williams sitzt am Schlagzeug, Hugo spielt Saxofon, man freundet sich an. Nach der Schule versucht man, sich vom Jazz zu lösen, um im Proberaum die Grenzen von HipHop zu sprengen. Dabei lässt man sich von allem beeinflussen, was die verfügbaren Plattensammlungen hergeben.

Später spielt man in diversen Bands. So ist Williams Anfang der 90er-Jahre Mitglied einer HipHop-Gruppe namens Surrounded By Idiots, zu der auch ein gewisser DJ Timmy Tim gezählt wird, der eigentlich auf den Namen Tim Mosley hört und in den Jahren danach als Timbaland zu einiger Bekanntheit kommen soll. Mit einer anderen Band, zu der auch Chad Hugo und Shay gehören, wird Williams dann 1992 im Rahmen eines Talentwettbewerbes entdeckt. Der R & B-Produzent Teddy Riley nimmt sie unter Vertrag, doch das geplante Album wird nie erscheinen. Dafür bekommen Williams und Hugo die Gelegenheit, erstmals als Neptunes Stücke für Blackstreet und Sisters With Voices zu produzieren. Weil ihnen die Arbeitsbedingungen nicht gefallen, trennen sie sich von Riley und ziehen nach New York.

Eine Superliga für sich

Die ersten eigenständigen Neptunes-Produktionen findet man auf „Harlem World“ von Mase, „Movement“ von Harlem World und „Seven & Seven“ von MC Lyte. Mit Noreagas „Superthug“ haben sie 1998 den Durchbruch, der ihnen Einlass in die Liga von Produzentengrößen wie Timbaland, Rodney „Darkchild“ Jerkins, Missy Elliott, Kevin „Shek’spere“ Briggs und Dr. Dre gewährt. Doch in den letzten zwölf Monaten ist es den Neptunes gelungen, aus der bislang höchsten Liga aufzusteigen, um eine noch höhere zu etablieren: die Liga der Superproduzenten, die sich nicht auf ein, zwei Genres beschränken, sondern auf der langen Strecke von Mystikal bis Marilyn Manson einfach alles produzieren und produzieren können, was ihren ästhetischen oder finanziellen Vorstellungen entspricht. Gehaltszahlungen von ungefähr 150.000 Dollar können bei der Entscheidungsfindung helfen.

Das Geheimnis ihres unaufhaltsamen Erfolgs besteht in erster Linie in der Übertragbarkeit des Produktionsprinzips und des Sounds. Als HipHop-Produzenten haben sie ihre Stücke bis aufs Nötigste reduziert, den Bass mitunter komplett weggelassen, um das Minimalkonstrukt mit jenen Videospiel- und Mobiltelefongeräuschen anzureichern, die dem Ganzen das jeweilige Wiedererkennungsmoment verpassen. Gelegentlich haben die Stücke ebenso viele Töne wie Stille zwischen den Tönen. „Unsere Songs sind Gerüste“, sagt Williams dazu. „Wir merken, wenn es zu viel wird. Und wir wissen, wenn es zu wenig ist. Und Synkopen sind wichtig.“

Damit die Neptunes-typische Synkopierung einen gewissen Dreh bekommt, haben sie es sich angewöhnt, ihre Beats derart zu programmieren, als seien sie leicht nachlässig von Hand am Schlagzeug eingespielt. Dieses Prinzip ist bereits auf dem vier Jahre alten MC Lyte-Titel „It’s All Yours“ zu hören, wurde bei Britneys „I’m A Slave 4 U“ dann durch die Betonung des Augenblicks nach dem Beat effektiv weitergedacht und findet bei dem irgendwie völlig aus dem Ruder laufenden „Work It Out“ von Beyoncé Knowles seinen vorläufigen Höhepunkt.

Man könnte also sagen, dass die Neptunes bei ihren Produktionen versuchen, die unvermeidlichen Unzulänglichkeiten handgemachter Musik mit Maschinen nachzuspielen. Oder man könnte es wie Pharrell Williams formulieren: „Sequencer sind perfekt, und Menschen sind es nicht. Sie sind fehlerhaft. Und diese Fehlerhaftigkeit ist die wahre Perfektion.“ Und so, wie die Neptunes die unbewusst fehlerhafte Perfektion menschlichen Musizierens bewusst mit fehlerlos funktionierenden Maschinen nachzuspielen versuchen, so haben sie für die neue Version ihres N.E.R.D.-Albums „In Search Of …“ versucht, die unbewusste Fehlerhaftigkeit einer Liveband zu nutzen, um auf diesem Weg die bewusst eingespielten Fehler der ersten Albumversion nachzuspielen. Das klingt nicht nur kompliziert, das ist es auch und wurde durch die Mächte des Zufalls überhaupt erst auf den Weg gebracht.

Denn beinah wäre nur die erste Albumversion erschienen, welche sich in Sachen Songwriting zwar deutlich von den Neptunes-Produktionen unterscheidet, aber hinsichtlich der Herangehensweise klar als klassische Neptunes-Produktion erkennbar ist. Doch dann begab es sich, dass die Neptunes mit No Doubt ins Studio gingen, um den Titel „Hella Good“ aufzunehmen. Der Legende nach war es ihre erste Begegnung mit einer Rockband, und offenbar war es eine mit Folgen: Sie lernten, dass sie den Erfordernissen einer Rockproduktion gewachsen waren, und darüber hinaus, die Kraft elektrischer Gitarren zu schätzen.

Spontan kam ihnen die Idee, die Auslieferung des Albums zu stoppen, um es gleich darauf mit Spymob, einem Funkrock-Quartett aus Minneapolis, noch einmal Song für Song neu einzuspielen. Das Ergebnis hat zwar gegenüber der ersten Version gewonnen, sitzt aber hinsichtlich der Vermarktung zwischen einer kaum mehr messbaren Anzahl von Stühlen, die mit HipHop, Soul, Funk, Punk, Rock und Wave nur relativ ungenügend benannt sind. Dass die Veröffentlichung des Originals zumindest in Europa nicht mehr aufzuhalten war, mag in diesem Zusammenhang zwar einige Sammlerherzen erfreuen, bedeutet für den Strategieplan der zuständigen Plattenfirma aber noch immer eine mittlere Katastrophe.

Im Auto von Xavier N.

Seltsamerweise scheint es nämlich schwierig, das Album der derzeit einflussreichsten Produzenten angemessen zu bewerben. Denn als N.E.R.D. sind die Neptunes nicht bekannt, und ihre Songs sind zu sperrig, als dass sie ohne bekannte Namen auskommen. Man darf davon ausgehen, dass auch die Neptunes-Titel für Britney und *NSync sich niemals zu Hits entwickelt hätten, wären sie nicht von den entsprechenden Sendern und Stationen als Britney- und *NSync-Nummern derart oft gespielt worden – und zwar so oft, bis irgendwann die Songs gegenüber den Interpreten in den Vordergund traten. Neptunes-Songs funktionieren über ihre Langzeitwirkung, und das ist bei einem N.E.R.D.-Album dann ein Problem. Wie es aussieht, haben Pharrell Williams und Shay nicht vor, sich an der Lösung des Problems in irgendeiner Weise zu beteiligen.

Und was könnte Shay auch tun? Er ist zwar derjenige, der die Neptunes erst zu N.E.R.D. macht, doch war sein Einfluss auf beide Albumversionen überschaubar. Leider konnte er am Produktionsprozess nicht teilnehmen, weil er seine Nahkampfkünste zuvor an einem Polizisten ausprobiert hatte, der damit wohl nicht einverstanden war. Dafür sieht man ihn nun immerhin mit Tennissocken und Badelatschen angemessen gekleidet auf dem Cover. Und Pharrell Williams scheint zu nichts anderem mehr in der Lage, als sich einigen lichteren Momenten wieder rücklings auf das Sofa zu legen.

Die Nacht zuvor, man feierte den Christopher Street Day in Köln, soll es spät geworden sein. Während Pharrell Williams und Shay sich zunächst einer für sie verstörenden Massierung von Männern ausgesetzt sahen, kam plötzlich wie ein Ritter auf seinem Pferd Xavier Naidoo mit seinem Auto aus dem Nichts gebraust, lud sie zu sich auf die Hinterbank, um sie in einen HipHop-Club in Maastricht mitzunehmen. Wie Williams Tage später auf MTV erzählen soll, hat Naidoo ihn dabei über die Feinheiten deutscher Energiepolitik informiert. Die Erkenntnis: Es gibt in Deutschland Atomkraftwerke. Williams ist entsetzt. Was er nicht nicht erzählt hat: dass er von Naidoo ganz begeistert ist. Die Neptunes werden ihn in naher Zukunft produzieren.

N.E.R.D. „In Search Of …“ (Virgin)