Auf der Suche nach dem Gott der Thermik

Sie tun es mit viel Fingerspitzengefühl und, pardon, mit dem Hintern. Wenn Segelflieger sich über die Schwerkraft hinwegsetzen, kribbelt es im Allerwertesten. Eine Reportage aus dem Segelflieger-Eldorado in Osterholz-Scharmbeck. Von Kai Schöneberg und Indra Wegener (Fotos)

Manche halten die Nase in den Wind, andere checken die Lage mit einem Blinzeln. Diese Sorte Mensch hat einen besonderen Zusatz-Sinn: Segelflieger fühlen mit dem, pardon, Hintern, ob alles roger ist. Ob’s rauf oder runter geht, ob sie die Thermik heute nur zwei oder 500 Kilometer weit trägt. „Achterbahnfahrer kennen das vielleicht“, erklärt Norbert Ulrich von der Segelfluggruppe des Bremer Vereins für Luftfahrt. Der Allerwerteste spüre den Aufwind halt am besten. Deshalb bekommen Segelflugschüler auch nach dem dritten Solo-Flug ein paar Klappse auf den Po – „das ist unsere Taufe“, meint Ulrich. „Damit der Hintern noch empfindlicher wird.“

Flugplatz Osterholz-Scharmbeck, ein lauer Sommertag mit den Wolken, die schlechte Thermik anzeigen. Ein Trüppchen Segelflieger döst unterm Sonnenschirm neben einem ausrangierten quietschroten Feuerwehrauto – das ist der Startwagen, eine Art „Tower“. Oben sitzt der „Koordinator“ und nimmt lässig den Hörer des grünen Wählscheiben-Telefons ab – sein direkter Draht zur Winde, an deren Stahlseil gerade ein Segelflieger eingeklinkt wird. „Koordinator“ an Winde: „Hier steht ASK 21 am Start.“

Der Rest der Welt diskutiert über schlafmützige, von Monstertechnik überforderte Fluglotsen, weil die ja unlängst einen russischen Flieger samt knapp 100 Menschen ins Jenseits befördert haben sollen. Aber der Wiesenflughafen von Osterholz-Scharmbeck ist nicht Frankfurt/Main – und schon gar nicht Zürich-Kloten. Auf Sicherheit wird zwar allergrößten Wert gelegt – dennoch läuft hier alles ein bisschen lässiger ab: Der „Koordinator“ auf dem Feuerwehrwagen steht auf, sondiert mit einem kurzen Blick nach hinten die Lage und sagt: „Alles frei!“ Das Seil strafft sich, die ASK 21 flitscht wie an einem Katapult in die Höhe. Gruppenleiter Axel Wüest, im normalen Leben Techniker an der Bremer Flugschule der Lufthansa, schaut sehr zufrieden: „So ’ne Steiggeschwindigkeit kriegste mit keinem Jet hin“.

Soviel zur Theorie. Wenn Neusegler realiter tschüss zur Schwerkraft sagen, schwuppst es, dass einem fast die Düse geht. Der Hintern hört gar nicht auf zu Kribbeln, wenn der kleine Schweber in drei Sekunden auf 100 Sachen schnellt – das ist mindestens Porsche-Format, dascheint mehr Power dahinter als bei jedem Mallorca-Flieger. Ein Druck in den Sitz, die Winde katapultiert den Segler gen Nirgendwo. In 300 Metern Höhe klackt es plötzlich. Das dürfte der Haken gewesen sein, der sich löst: Wir fliegen.

Und schon beginnt das Gefühl, von dem Segelflieger feuchte Augen bekommen. Die unendliche Segelflug-Stille, unterlegt von leichtem Rauschen. Am Horizont die Weyher Berge, Worpswede, der Fallturm und die Stahlwerke, unten ein paar Kühe und die Schlängel der Hamme.

Aber: miese Thermik. Kein Wunder. Eigentlich ist die Sache mit den Aufwinden in Osterholz-Scharmbeck nämlich häufig Essig. Der Grund sind die vielen Wiesen drumrum, die das Wasser lieber speichern, anstatt es in Gestalt von feuchter Luft in die Höhe steigen zu lassen.

„Das ist hier so ähnlich wie mit den Bobfahrern aus Jamaika“, witzelt Ulrich. Segelflieger-Chef Wüest hat immerhin schon 2.000 Flugstunden auf dem Buckel und stellt klar: „Aus unserem Sumpfloch geht Einiges“. Meistens fliegen die Osterholz-Scharmbecker in Richtung Osten, zum trockenen Sandboden der Altmark. Dorthin hat es Wüest auch schon 500 Kilometer weit geschafft. Quer über die Elbe zum Autobahndreieck Ludwigslust – und zurück über Helmstedt.

Vereinskollege Ulrich nimmt lieber den Motorsegler. Davon ist einer in Vereinsbesitz, außerdem gibt es fünf Segelflugzeuge – eins davon ist sogar behindertentauglich. Seit sieben Jahren ist der 34-jährige Außendienstler Ulrich beim lautlosen Schweben dabei: „Mit einem geschenkten Schnupperflug fing alles an – heute bin ich fast süchtig.“

Motorsegeln ist die Sicherheits-Variante vom Schwebegleiten. Alles im Trabbi-Design, ein Motörchen wie ein VW Käfer, aber dafür keine Abhängigkeit von der blöden Thermik. Ulrich: „Ich will nicht sagen, dass es langweiliger ist. Aber immerhin kannste dir ’ne Badehose anziehen – und in 45 Minuten biste auf Juist.“

Zurück zum Schnupperfliegen hoch über Osterholz-Scharmbeck, wo Pilot Jürgen Weber bei rund hundert Stundenkilometern beteuert, dass er „noch nie den Rettungsfallschirm benutzt“ hat. Der Gott der Thermik meint es heute aber wirklich nicht besonders gut mit Weber. Nur einmal zeigen Allerwertester wie Variometer kurz den Aufstieg an, dann fällt das Flieger schon in Richtung Feuchtwiese. Weber ist ein rastloser Flieger. Er wendet kurz über dem Osterholzer Sportplatz, fährt die Landeklappen aus, hält sanft wie ein Fahrstuhl und meint: „Dann können wir ja gleich wieder los.“

Kai Schöneberg