Kommunisten und Champagnerkorken

Ein Ausflug nach Seixal, einem Vorort von Lissabon am südlichen Ufer des Tejo. Der wohlhabende Ort präsentiert ein Stück Industriegeschichte Portugals

von JAN STERNBERG

Einer der beliebtesten Plätze bei Lissabon-Touristen ist das Castelo de São Jorge, die Burg oberhalb der Altstadt: Vorzugsweise in der Abenddämmerung genießt man hier den Blick auf die sieben oder mehr Hügel der portugiesischen Hauptstadt und auf den breiten, gemächlich dem Meer entgegenströmenden Tejo. Man beobachtet die Fährschiffe, wenn sie geschäftig von der Innenstadt die Vororte am südlichen Flussufer ansteuern: Almada, Seixal, Barreiro, Montijo.

Kaum einer der vielen Besucher fährt mit diesen Schiffen. Und wenn, dann nur, um die Altstadt vom Wasser aus zu betrachten oder vom Bahnhof Barreiro den Zug in Richtung Algarve zu besteigen. Dabei haben diese Stiefkinder am anderen Ufer einiges durchgemacht: Seixal zum Beispiel, heute eine Stadtgemeinde mit 130.000 Einwohnern, hat sich in den letzten hundert Jahren von einem kleinen Fischerdorf über eine sich gerade dem Ende zuneigende Periode als Industriestandort zum gehobenen Wohnvorort entwickelt. Die Angestellten und Geschäftsleute, die täglich mit den modernen Katamaranschnellfähren oder dem neuen Vorortzug, unter der „Brücke des 25. April“ hängend, in die Boomtown Lissabon pendeln, garantieren üppige Steuereinnahmen.

Die kleine Altstadt an der Mündung des Rio Judeu in den Tejo ist hübsch renoviert, ein neues Fährterminal in Betrieb genommen, neue Straßen sind in Bau – und zwischendrin flattern einige rote Flaggen. Denn Seixal ist kommunistisch: Seit der portugiesischen „Nelkenrevolution“ am 25. April 1974 regiert hier die Kommunistische Partei, und niemand glaubt, dass sie ihre Mehrheit im Rathaus in nächster Zeit verlieren wird. Einen großen Teil des Stadtbudgets steckt man in soziale und kulturelle Projekte, allen voran das ambitionierte und höchst aktive städtische Industriemuseum, das „Ecomuseu Municipal“.

Vierzig Personen an verschiedenen Standorten arbeiten daran, traditionelle und industrielle Lebens- und Arbeitsformen an Originalstandorten zu dokumentieren und zu vermitteln. In der Gezeitenmühle von Corroios wird gezeigt, wie hier seit 1403 durch Nutzung des bei Hochwasser angestauten Wassers die Mühlräder angetrieben werden. Schulklassen und Besuchergruppen können mit drei traditionellen Lastenseglern Flussfahrten unternehmen. Dazu kommt eine Reihe ambitionierter neuer Projekte, unterstützt von einem aufwändigen museumspädagogischen Programm: In der 1898 gegründeten Schwarzpulverfabrik „Sociedade Africana de Pólvora“ (SAP) soll eine neue Ausstellung entstehen – es wäre die erste dieser Art in Europa. Momentan wird hier noch produziert, die Besichtigung der Fabrik und der 1900 eingebauten Dampfmaschine ist nur eingeschränkt möglich. Lieblingskind der Museumsleiterin Graça Filipe ist die Rettung des Hochofens des 1961 errichteten Stahlwerks „Siderurgia Nacional“.

Am Rande der Altstadt von Seixal befindet sich das Gelände der 1906 gegründeten und 1988 stillgelegten Korkfabrik „Mundet“, einst die größte Portugals und wahrhaftig eine lusitanische Besonderheit: Die Korkeichen, die nur alle neun Jahre geschält werden dürfen, wachsen nur auf der Iberischen Halbinsel, und auch heute werden 80 Prozent der weltweiten Korkernte in Portugal verarbeitet. „So ungefähr das Einzige, in dem wir Weltspitze sind“, bemerkt die Ausstellungsführerin. In der Maschinenhalle des Werks stehen zwei riesige Babcock & Wilcox-Dampfkessel aus den Jahren 1923 und 1925. Drum herum findet man eine kleine, aber eindrucksvolle Ausstellung zur Korkproduktion und den Arbeitsbedingungen in der Fabrik. Hauptexportprodukt von Mundet in die USA waren Einsätze für Kronkorken, bis die Verwendung von Plastik den Markt zerstörte. Daneben liegen Wein- und Champagnerkorken, Korkplatten für die Inneneinrichtung, Korkpapier und einige andere Schönheiten und Scheußlichkeiten aus diesem Naturprodukt in den Vitrinen. Ein altes Foto zeigt den Werkskindergarten: „Unsere zukünftigen Arbeiter“ ist dort zu lesen. Daneben liegt ein Revolver. Korkpatronen? Nein, die Einkäufer der Firma mussten mit viel Bargeld über schlechte Straßen in den wilden Alentejo reisen, wo die Korkeichen wachsen, da war Vorsicht geboten …

Fähren nach Seixal fahren in Lissabon von der Praça do Comércio. Dauer 20 Min., Preis (einfache Fahrt) 1,20 €. Informationen unter +35 12 13 84 54 54. Die Korkfabrik Mundet befindet sich im Süden der Altstadt von Seixal: Largo 1 de Maio. Di.–Fr. 9–12/14–17 Uhr, Sa./So. 14–17 Uhr (Okt.–Mai), Di.– Fr. 9–12/14–17 Uhr, Sa./So. 14.30–18.30 Uhr (Juni–Sept.), Eintritt frei.Ecomuseu Municipal de Seixal, Praceta Francisco Adolfo Coelho, Torre da Marinha, 2840-490 Seixal, Portugal. Tel. +35 12 12 27 62 90, Fax +35 12 12 27 63 40, E-Mail:ecomuseu.cms@mail.telepac.pt Ansprechpartnerin für Gruppenführungen auf Portugiesisch, Spanisch, Englisch oder Französisch sowie für die Flussfahrten mit den Segelschiffen ist Carla Costa vom „Educational Service“ des Museums. Führungen und Flussfahrten können auch beim „unicipal Tourist Office“ gebucht werden: Praça da República, 2840 Seixal, Tel. +35 12 12 22 70 54. In der Altstadt von Seixal gibt es eine Anzahl Bars und Restaurants; ortstypisches Flair vor allem in der Bar der örtlichen Kommunistischen Partei an der Praça dos Mártires da Liberdade.