Sie hatten einen Traum

Vor 33 Jahren fand auf einer Wiese in den Bergen oberhalb New York Citys das legendäre Woodstock-Festival statt. Ein Happening aus einer ganz anderen Welt. Es war vielleicht nicht die Geburtsstunde aller alternativen Bewegungen – mindestens aber ihr wichtigstes und kraftvollstes Aufbruchsignal. Ein Blick zurück

von WOLFGANG KRAUSHAAR

Im Herbst 1969 fand in Chicago einer der spektakulärsten Prozesse der US-Geschichte statt. Angeklagt unter anderen: Abbie Hoffman, Dave Dellinger, Tom Hayden, Jerry Rubin und Bobby Seale, Wortführer der US-Antikriegsbewegung. Die so genannten Chicago Eight waren beschuldigt, ein Jahr zuvor Störaktionen beim Konvent der Demokratischen Partei organisiert zu haben.

Welche Welten im Gerichtssaal aufeinander prallten, wurde schon bei der Feststellung der Personalien deutlich: „Würden Sie Ihren Namen nennen? Hoffman: Mein Name ist Abbie. Ich bin ein Waisenkind aus Amerika. Wo wohnen Sie? Hoffman: In Woodstock Nation. In welchem Staat liegt das? Hoffman: Im Bewusstsein. Es ist eine Nation entfremdeter junger Leute. Wir tragen sie in unseren Köpfen mit uns herum ebenso wie die Siouxindianer die Sioux Nation in ihren Köpfen mit sich herumtrugen. Eine Adresse genügt. Bloß nichts über Philosophie oder Indianer.“

So weit der Auszug aus dem Vernehmungsprotokoll dieses Prozesses, der unter tumultartigen Zuständen nach vier Monaten zwar mit einem Freispruch in der Sache, jedoch mit einer gleichzeitigen Verurteilung wegen ungebührlichen Verhaltens vor Gericht zu Ende ging.

Abbie Hoffman hat das Stichwort genannt: Woodstock Nation. Worum geht es? Um Woodstock? Um das legendäre Musikfestival? Jedenfalls nicht in erster Linie. Worum es geht, das ist nichts anderes als die Hippiebewegung. Darüber ist doch, ließe sich einwenden, bereits alles gesagt worden. Wirklich? Einer der besten Kenner, der Herausgeber der Zeitschrift Rolling Stone, Charles Perry, hat die so genannte Flower-Power-Ära als „das am meisten beschriebene, jedoch am wenigsten verstandene Ereignis der Sechzigerjahre“ bezeichnet.

Lässt sich ein Phänomen, das derartig mit Klischees überfrachtet ist, überhaupt angemessen thematisieren? Die Zweifel sind nicht unberechtigt. Schließlich fallen einem zahllose Attribute ein, geeignet, jedes weitere Interesse bereits im Keim zu ersticken: lange Haare, bunte Klamotten, wallende Gewänder, Blumenschmuck, Räucherstäbchen, Haschisch, LSD und Marihuana als Ausdruck – von Popsongs wie „California Dreamin’ “, „Surfin’ USA“ und „Let The Sunshine In“ ganz zu schweigen.

Es gehört nicht viel dazu, wie das immer wieder in Artikeln zu entsprechenden Jahrestagen geschieht, die Hippiebewegung als einfältige Selbstsuche, als Ausdruck grenzenloser Naivität und einer infantilen Weltsicht zu entlarven. Die Parolen, die in jener Zeit in Kalifornien geprägt wurden und in vielen Sprachen in den Zitatenschatz gewandert sind, bestätigen dies: „Trau keinem über dreißig“, „Wir sind die, vor denen uns unsere Eltern gewarnt haben“, „High sein, frei sein“ und viele andere.

Doch auch dieser Entlarvungsgestus hat sich erschöpft. Auf der Strecke geblieben ist hingegen die Ahnung, dass es hinter den Mustern, Codes und Emblemen eine Strömung gegeben haben könnte, aus der Muster einer globalen Jugendkultur hervorgegangen sind.

Der durch die Popmusik geschaffene, nicht abreißende Klangfilm erzeugt die Illusion, dass es um Ereignisse gehe, die erst gestern geschehen seien, die in Wirklichkeit aber bereits mehr als drei Jahrzehnte vorüber sind. Ein genauer Blick zurück lohnt – zunächst auf die San Francisco Bay Area, die Gegend um die Bucht von San Francisco an der amerikanischen Westküste.

I. Die San Francisco Bay Area

Neue Kulturen fallen nicht vom Himmel. Ihre Entstehung vollzieht sich in gesellschaftlichen Mikrokosmen. Sie benötigen Ideen- und Impulsgeber, verschiedene Reibungsfaktoren, bestimmte Konstellationen, vor allem aber auch ein geeignetes soziokulturelles Geflecht, um sich entfalten zu können. Das gilt für künstlerisch-intellektuelle Avantgarden ebenso wie für Jugendkulturen. Die Entstehung der Dadabewegung während des Ersten Weltkrieges in Zürich ist ein Beispiel, die der Jazzszene in New Orleans ein anderes.

Die Wurzeln der wichtigsten Subkulturen der Sechzigerjahre lagen in einem vergleichsweise kleinen, recht überschaubaren Areal. In der am Pazifik gelegenen kalifornischen Großstadt, in der der Eroberungsdrang der Pioniere an seine natürlichen Grenzen stieß und die von vielen als die europäischste Stadt der USA angesehen wird, entstanden vor fast vierzig Jahren in kurzen Abständen und in unmittelbarer geografischer Nähe die folgenden Bewegungen, die später auch im alten Europa ihre Kraft zu entfalten begannen:

An der Universität Berkeley entstand im Herbst 1964 das Free Speech Movement, das so etwas wie das Urmodell für die weltweit ausbrechenden Studentenrevolten abgegeben hat und in dem mit Joan Baez bereits die Ikone der Folkmusik eine aktive Rolle gespielt hat; im Stadtteil Haight-Ashbury begann im Sommer 1965 die Hippiebewegung, die der Gegenkultur ein Gesicht gab und die sich über Jahre hinweg als die vitalste Quelle der Popmusik erwiesen hat; im Vorort Oakland formierte sich 1966 die radikale Black-Power-Bewegung, die sich selbst bewaffnete und schließlich drei Jahre später mit Waffengewalt vom FBI zerbrochen wurde; auf der in der Bucht gelegenen Insel Alcatraz begann im November 1969 die Indianerbewegung, die mit einer Besetzungsaktion das Eiland, jahrzehntelang ein Zuchthaus, für sich zurückforderte; und in der Castro Street lag damals das Nest der Schwulenbewegung, aus der sogar ein Stadtrat, der 1978 ermordete Harvey Milk, hervorgegangen ist.

Was das „Swinging London“ für die Popkultur, was das Amsterdam der Provos für die gegenkulturellen Einflüsse auf Europa und New Yorks Greenwich Village für eine Künstlergeneration war, die von Bob Dylan bis Andy Warhol reichte, das spielte sich potenziert in dieser Gegend ab. Die Radikalisierung der Studenten, der Schwarzen, der Hippies, der Indianer und der Homosexuellen schufen neue kulturelle Codes, die – Hollywood war nah – multimedial vermittelt ihre Wirkung rund um den Globus nicht verfehlten.

In wenigen Vororten, Stadtteilen und Straßen der kalifornischen Metropole wurden auf engstem Raum neue Kultur-, Politik- und Lebensformen erprobt, die, zusammengenommen, einen einen eigenen Jugendstil ausstrahlten. San Francisco war in jenen Jahren das Mekka der Gegenkultur – und für die antiautoritäre Bewegung der Bundesrepublik eine Art Blaupause, der alle mehr oder weniger nacheiferten.

II. Die Beat Generation

Die Hippiebewegung besaß eine Vorgeschichte, die auf eine literarische Avantgarde zurückging und deren Vorreiter sich vorübergehend in San Francisco ansiedelten. Gemeint sind die Schriftsteller der Beat Generation mit ihren drei Ikonen Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William Burroughs.

Entstanden war die Kerngruppe in New York, genauer an der Columbia University, wo sich die drei 1943 kennen lernten. Ein Freund Kerouacs hatte 1952 in einem Aufsatz die aus dem Zweiten Weltkrieg als Sieger zurückgekehrten GIs als the beaten generation, die geschlagene Generation, bezeichnet.

Die Beat Generation galt als eine Art Basislager der meisten auf sie folgenden Subkulturen. Was Burroughs, Kerouac und Ginsberg im Kontext ihres Schreibens entwickelt hatten, wurde von ihnen an Jüngere weitergegeben. Es waren vor allem vier Grundelemente, die sie in ihren Experimenten hervorgehoben hatten und die in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre eine zentrale Rolle spielen sollten: Erstens die Geringschätzung materieller Werte und die Bevorzugung des Abenteuers, des geistig-intellektuellen ebenso wie des körperlich-sinnlichen, gegenüber allen Sicherheitsversprechungen einer bürgerlichen Existenz; zweitens die Praktizierung einer triebgesteuerten Sexualität jenseits gesellschaftlicher Konventionen und Normen; drittens die Erweiterung des Bewusstseins durch einen experimentellen Umgang mit Drogen; und viertens die Entdeckung einer neuen Religiosität, die nicht mehr vom Christentum, sondern von Buddhismus und Taoismus inspiriert war und mit der Wiederbelebung von allerlei Mystizismen einherging.

Auf die Generation, die ihnen folgen sollte, blickten nicht wenige Repräsentanten der Beat Generation hochnäsig herab. In ihren Augen stellten Hippies nichts anderes als die Imitation einer spezifischen Art von Bohème dar, die sich nicht mehr für „seriöse“ Formen der Kultur (Poesie, Jazz) interessierte und es sich nur noch gut gehen lassen, am besten immer stoned sein wollte.

Bereits für die Beatniks hatte das Adjektiv „hip“ eine spezifische Bedeutung. Es meinte so viel wie erfahren, eingeweiht und sich eins mit der eigenen Bewegung fühlend. Als Hipster wurde in den Fünfzigerjahren der amerikanische Typ des Existentialisten bezeichnet. Er wurde dem Square gegenübergestellt, dem Spießer, Philister oder Konformisten. Der Hipster orientierte sich an dem in den Ghettos der Schwarzen entwickelten Stil – in der Mode, der Musik, der Art und Weise zu sprechen und sich zu bewegen.

Die Beatniks bezeichneten nun die jungen Leute, die zu Beginn der Sechzigerjahre in ihren Augen kaum anderes im Kopf zu haben schienen als an Drogen heranzukommen, um sich damit in einen künstlichen Paradieszustand zu versetzen, als junior grade hipsters, Nachwuchshipster, kurz: Hippies.

Damit hatten sie zugleich eine Bezeichnung gewonnen, mit der sie zwei Gruppen von Jugendlichen unterscheiden konnten. Die Anhänger des Rock ’n’ Roll von denen der Folksongs. Während die Anhänger der Folkmusik kurz Folkies genannt wurden, stand nun für die der Rockmusik der Ausdruck Hippies zur Verfügung.

Und die so eher abschätzig Attributierten begannen bald damit, diese Bezeichnung selbst im positiven Sinn zu verwenden. Ein ehemaliger Bewohner der Hippieszene von Haight Ashbury beantwortete zwanzig Jahre nach deren Auflösung die Frage, was unverwechselbar an der Einstellung der Hippies gewesen sei, mit der Feststellung, sie hätten eine Haltung an den Tag gelegt, die man als eine expansiv theatralische Attitüde „of being cool enough to have fun“ – etwa: locker genug, um Spaß zu haben – bezeichnen könne.

III. Die Hippiebewegung in San Franciscos Haight-Ashbury (1965–67)

Haight-Ashbury war kaum mehr als die Kreuzung zweier Straßen in der Nähe des Golden Gate Parks im westlichen Teil San Franciscos. Im Grunde war dieser Stadtteil ein Anachronismus. Die meisten der dort im 19. Jahrhundert errichteten Häuser mit ihren schönen Holzfassaden hatten das große Erdbeben von 1906 unversehrt überstanden. Nachdem die begüterten, dort ursprünglich lebenden Bewohner vor dem stärker werdenden Autoverkehr aus der Stadt geflohen waren und sich in den Vororten niedergelassen hatten, waren dort Studenten aus der San Francisco State University und Menschen verschiedenster ethnischer Gruppierungen eingezogen: Mexikaner, Chinesen, Russen und Schwarze.

Wovon das Treiben jener Szene bestimmt war, kam nirgends konzentrierter zum Ausdruck als in einigen Manifestationen, deren Namen bereits für sich standen: Im „Trips-Festival“, dem „Human Be-in“ und dem „Death of Hippie“. Das drei Tage dauernde „Trips-Festival“ trug das Motto „Eine psychedelische Erfahrung ohne Drogen“ (was der Schriftsteller Tom Wolfe zu „Ein LSD-Trip ohne LSD“ umformulierte).

In der Presseankündigung hieß es: „Die Dinge haben sich geändert – aus Feierlichkeiten in kleinen, sich selbst genügenden Gruppen sind nunmehr große Happenings geworden, bei denen das gesamte Publikum mitwirkt. Das gemeinsame Tanzen aller Anwesenden ist ein Teil der Darbietungen, und alle, die kommen, sind aufgerufen, sich so ekstatisch wie möglich zu kleiden und selbst Instrumente mitzubringen (Anschlüsse für Elektronikinstrumente sind vorhanden).“

Hauptakteure waren neben dem Schriftsteller Ken Kesey und seinen Merry Pranksters die Grateful Dead sowie Big Brother & The Holding Company. Das unverkennbare Ziel bestand darin, die halluzinogenen Effekte eines LSD-Trips durch eine Form von Gruppenekstase zu erreichen. Um dieser Wirkung nahe zu kommen, bedurfte es allerdings diverser technischen Geräte – Scheinwerfer, Filmprojektoren, Lautsprecher und andere mehr, um Farb- und Lichtkaskaden zu erzeugen.

Die Teilnehmer waren gekleidet, als wollten sie eine Mischung aus Raumfahrern, Zirkuspferden und Figuren vom Karneval in Rio und Venedig verkörpern. Neal Cassidy, Buschauffeur der Merry Pranksters, raste als Gorilla verkleidet hinter der von ihm angebeteten Ann Murphy her. Und auf einem in der Mitte der Halle platzierten „Stroboskopischen Trampolin“ vollführten einige große Sprünge – im wahrsten Sinne des Wortes.

Das „Trips-Festival“ im Januar 1966 war das erste große psychedelische Spektakel, das die Szene erlebt hatte, Charles Perry bezeichnete es als „McLuhanite Global Village/electronic art happening“. Der definitive Höhepunkt in der kurzen Geschichte der Hippiebewegung dürfte jedoch ein unter der ontologisch klingenden Bezeichnung „Human Be-in“ am 14. Januar 1967 auf dem Pologelände im Golden Gate Park gestartetes Meeting gewesen sein.

Diesem Aufruf folgten mehr als 25.000 junge Leute. Für die musikalische Untermalung des mystisch anmutenden Massentreffens sorgten unter anderem später weltberühmte Bands wie Jefferson Airplane und Grateful Dead, Gruppen, die damals vorwiegend in und um San Francisco bekannt waren. Die Presse war beunruhigt, weil sich niemand erklären konnte, was es wohl mit einem „Be-in“ auf sich haben würde. Was ein „Sit-in“ (ursprünglich: Setz-dich-hinein-Bewegung) oder ein „Teach-in“ (ursprünglich: Aufklärungsversammlung) war, das wusste man inzwischen, aber was um Himmels willen sollte ein „Be-in“ sein – eine Versammlung des Seins?!

Auf einer gut besuchten Pressekonferenz, auf der Haschischplätzchen an die Journalisten verteilt worden waren, hatten Gary Snider, Michael Bowen und Jerry Rubin zwei Tage zuvor die Zielsetzungen des Unternehmens mit den Worten angekündigt: „Die politischen Aktivisten aus Berkeley und die Generation der Liebe aus Haight-Ashbury werden sich mit anderen Angehörigen der neuen Nation zusammenschließen, die aus allen Teilen unseres Landes anreisen werden. All die Mitglieder der verschiedenen Stämme der Jugend werden beraten, feiern und das Zeitalter der Befreiung, der Liebe, des Friedens, des Mitgefühls und der Einheit der Menschheit verkünden. Die Nacht, in der Amerika die Adlerbrust schwellen musste, um seine Angst zu vergessen, ist vorbei. Werft eure Ängste über Bord und vertraut euch der Zukunft an. Wenn ihr uns keinen Glauben schenkt, dann wischt euch die Augen aus und seht selbst.“

Die Titelzeile des Festivalplakats warb mit „Pow-Wow. A Gathering of the Tribes for a Human Be-in“. Im Mittelpunkt der Grafik standen die Porträts von einem halben Dutzend Indianern. Alles machte den Eindruck, als ginge es um einen Appell zur Vereinigung verschiedener „Stämme“ von Jugendlichen, die im Lande verstreut auf ein Zeichen ihrer Verlebendigung warteten. Erstmals fiel im Zusammenhang der Hippiekultur das Stichwort „Nation“ – als habe die alte ausgedient. Die Wiedergeburt sollte die unterdrückten Indianer einbeziehen.

Die von den Hippies angeführten Jugendsubkulturen begriffen sich als Wiederauflage von Indianerstämmen, die ihr Zusammenleben angeblich in einer spirituell-durchgeistigten Weise harmonisch zu organisieren vermochten. Mit Allen Ginsberg saß eine der Ikonen der Beat Generation zusammen mit Michael McClure und Gary Snider im Schneidersitz auf der Bühne und intonierte in nicht zu überbietender Monotonie „Hare-Krischna-Hare-Krischna-Hare-Rama-Hare-Rama“, als seien sie von einer anderen Welt.

An jenem Tag ging auch Timothy Leary, der von der Harvard University gefeuerte Psychologieprofessor, ganz in Weiß gekleidet und mit Blumen im Haar geschmückt, ans Mikrofon und forderte die Teilnehmer auf, sie sollten alle Erziehungseinrichtungen verlassen: „Verlasst die Schulen, verlasst die Universitäten, verlasst die Fachschulen!“ Dann sprach er jenen Slogan mit großer Entschiedenheit aus, der zum Credo der Aussteiger, Ausreißer und Freaks überhaupt werden sollte: „Turn on, Tune in, Drop out!“ – etwa: Dreh auf, mach mit, steig aus!

Einiges ging jedoch auch schief. Irgendjemand hatte das Stromkabel, das zum Generator führte, durchgeschnitten. Danach gab es keine Lautsprecherübertragungen mehr. Country Joe & The Fish hatten zu diesem Zeitpunkt von ihrem ursprünglich geplanten Auftritt Abstand nehmen müssen. Sie waren einfach zu zugedröhnt, um ihre Gitarren noch halten zu können.

Von diesem Tag an war von counterculture, von Gegenkultur die Rede, ein Schlüsselwort aller künftigen alternativen Bewegungen. Und: An diesem Tag hatte die Hippieszene von Haight-Ashbury ohne es zu ahnen die Urzelle eines Popfestivals kreiert.

Als dann einige Monate später auch in Europa Scott McKenzies Song „San Francisco“ die Hitparaden eroberte und die Hippiefigur zu einer massenmedial präsenten Erscheinung machte, wurde in Haight-Ashbury, also am Ort selbst, die Flower-Power-Bewegung bereits symbolisch zu Grabe getragen. Am 6. Oktober 1967 wurde mit einem festlichen Umzug „The Death of Hippie“ begangen.

Ein überdimensionaler Sarg wurde durch die Haight Street getragen. Er war offen, damit die Bewohner von Haight-Ashbury all jene Symbole, die für ihre spirituelle Lebensweise standen – Perlen, Sticker, Haschischpfeifen, Buttons, Anhänger – dort hineinwerfen konnten. Im Buena Vista Park wurde der Sarg schließlich abgestellt und angezündet. Die Zeremonie wurde durchgeführt, weil sich an diesem Tag zum ersten Mal jährte, dass der Bundesstaat Kalifornien den Konsum von LSD unter Strafe gestellt hatte. (Dieser Trauerakt an diesem Tag verriet en passant, wie konstitutiv der Drogenkonsum für die Subkultur ganz offenbar war.) Andererseits wollte man sich dagegen wehren, dass der Hippie zu einer Medienfigur geworden war, die immer weniger mit dem zu tun hatte, was sich die Aussteiger selbst unter einer anderen Form des Zusammenlebens vorstellten.

Der „Death of Hippie“ war insofern eine Art Befreiungsschlag gegenüber den Kräften des Kommerzes – und erwies sich bald als die entscheidende Zäsur in der Geschichte von Haight-Ashbury. Einige der wichtigsten Protagonisten verließen nicht nur das Viertel, sondern auch gleich die Stadt.

IV. Die Rockfestivals in Monterey und Woodstock (1967–69)

Zwar gab es mit den Jazz- und Folkfestivals von Newport eine Tradition, aus der mit Joan Baez und Bob Dylan zwei der wichtigsten Interpreten der Folk- und Popmusik hervorgegangen sind, doch erst im südlich von San Francisco gelegenen Monterey fand vom 16. bis 18. Juni 1967 das erste Popfestival der Geschichte statt. Es war kaum mehr als die Verlegung der Haight-Ashbury-Szene an die Pazifikküste. „Alles wie im Fillmore“, meinte Bill Graham, der wichtigste Impresario der Szene, „nur eben viel größer.“ An den drei Tagen wurden fünfzigtausend Besucher gezählt.

John Philips, Sänger und Songwriter der Mamas & Papas, hatte „die erste große Heerschau der neuen Popmusik“ (Graham) initiiert und gemanagt, unterstützt vom Produzenten Lou Adler. Mit Janis Joplin, Jefferson Airplane, der Butterfield Blues Band und The Electric Flag traten einige der wichtigsten Rockmusiker aus der Bay Area auf. Verstärkt wurden sie von mehreren Bands aus Los Angeles, den Byrds, den Mamas & Papas, Blood, Sweat & Tears sowie den Who aus London. Höhepunkte waren die Auftritte des Soulsängers Otis Redding, der im Dezember desselben Jahres bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen sollte, und Jimi Hendrix, der am Ende des Auftritts seine Gitarre anzündete und mit deren Resten die Bühnenanlage zertrümmerte.

Am Ende soll der Reingewinn der mit minimalem Aufwand betriebenen Musikveranstaltung 430.000 Dollar betragen haben. Als die Sogwirkung, die das Festival ganz augenscheinlich für Jugendliche besaß, jedem kalifornischen Zeitungsleser vor Augen trat, stieg auch die Schallplattenindustrie ein.

„That’s Underground“ hieß einer der damals erfolgreichsten Sampler. Auf den im Psychedelic Look geprägten Vinylplattencovern hörte man Al Kooper, der Bob Dylan bei dessen erstem Auftritt mit elektrischer (und eben nicht mit akustischer Gitarre: umstritten, weil es das Gebot des Authentischen zu verletzen schien) beim Folkfestival von Newport begleitet hatte, Big Brother & The Holding Company, die Chamber Brothers, die Young Rascals sowie Spirit mit Randy California.

Produziert vom Medienkonzern CBS wurde den Bands mit diesem Tonträger der Stempel des Authentischen aufgedrückt – eine, wie sich herausstellen sollte, erfolgreiche Marketingstrategie.

Und aus dem Ei, das in Monterey gelegt worden war, schlüpfte, wie es Bill Graham einmal formuliert hat, zwei Jahre später Woodstock heraus. Obwohl auf der anderen Seite der USA gelegen, war es nach Monterey eine weitere Potenzierung dessen, was sich in Haight-Ashbury abgespielt hatte. Die Wahl des im Bundesstaat New York gelegenen Veranstaltungsortes hing auch damit zusammen, dass dort der wichtigste Sänger und Songwriter des Folk-Rocks lebte – Bob Dylan.

Als dieser sich 1966 bei einem Motorradunfall so schwer verletzt hatte, dass ein vorzeitiges Karriereende nicht mehr auszuschließen war, zog er sich in einen kleinen Ort zurück, der später in Deutschland spöttisch als das Worpswede der New Yorker Bohème bezeichnet wurde. Obwohl Dylan bis zuletzt mit dem Gedanken gespielt hatte, selbst in Woodstock aufzutreten, blieb diese Hoffnung der Veranstalter jedoch unerfüllt. Was, wie bekannt, dem legendären Erfolg des Festivals nichts anhaben konnte.

Organisator des Mammutfestivals, das vom 15. bis 17. August 1969 dauerte, war ein unerfahrener Lockenkopf, der erst 22-jährige Michael Lang. Hätte ihm nicht Bill Graham beratend zur Seite gestanden und wäre das Bühnenmanagement ebenso wie der Sicherheitsdienst nicht von entertainmenterfahrenen Mitarbeitern übernommen worden, dann wäre daraus vermutlich ein gigantisches Desaster geworden.

Doch trotz des unerwarteten Regens, der über dem Gelände herniederging und die Wiese zeitweilig in einen Sumpf verwandelte, ging das Großereignis so über die Bühne, dass seiner späteren Mythologisierung nichts mehr im Wege zu stehen schien. Zwar gab es ein Todesopfer zu verzeichnen, weil ein Jugendlicher in seinem Schlafsack von einem Fahrzeug überrollt worden war, jedoch wurde, wie stolz in einer der Ansagen verkündet werden konnte, irgendwo auf dem Gelände auch ein neuer Erdenbürger geboren.

Entscheidender aber war, was Jimi Hendrix ganz am Ende des Festivals, am Montagmorgen, als sich nur noch wenige tausend auf dem Gelände des Bauers Max Yasgur befanden, mit seiner Instrumentalimprovisation des „Star Spangled Banner“ bewirkte – er bannte mit dieser Performance die Utopie der Hippiekultur in ein Klangbild: Die musikalische Zerfetzung der amerikanischen Nationalhymne war zugleich eine Art melancholischer Liebeserklärung an das andere Amerika. Es war Anklage und Wehmut zugleich, ein modernes Requiem musikalischer Gegenkultur. Es war der Anspruch, die amerikanische Jugend könne mit anderen Werten eine legitimationsfähigere Nation repräsentieren als jene, die in den Vietnamkrieg fuhr.

Während der Soundtrack und der Film millionenfach Verbreitung fanden, etablierte sich in vielen Ländern die Idee, kleine Woodstocks zu organisieren. Ob auf der Isle of Wight, auf Fehmarn, in Roskilde oder anderswo – plötzlich schossen überall Open-Air-Festivals wie Pilze aus dem Boden.

Doch die Hippiekultur war zu dem Zeitpunkt, als sie als Ikonografie der Gegenkultur um den Globus ging, längst entmystifiziert. Während sich in Haight-Ashbury 1969 das ausbreitete, was romantisierend als der „Winter of Love“ bezeichnet wurde, mehrten sich die Alarmzeichen für die Selbstzerstörung des Eldorados der amerikanischen Gegenkultur. So wie die Szene mit LSD und Marihuana als den Stoffen zur Erzeugung „künstlicher Paradiese“ entstand, so ging sie an diesen schließlich auch wieder zugrunde. Die Subkultur, die sich als Gegenentwurf zum american way of life verstand, hätte sich ohne den Drogenhandel wohl kaum reproduzieren können.

Ihr Zerfall ging einher mit der Transformation in eine Szene, in der der Heroinkonsum nicht die Ausnahme war, sondern binnen zweier Jahre schließlich zum Standard eines Milieus wurde: Die Hippieszene verwandelte sich in eine Junkieszene. Die Grenzerfahrung, die Kräfte des Rausches zu mobilisieren, war nicht mit dem Ziel einer gesellschaftlichen Umwälzung erfolgt, sondern mit der Absicht, auf künstlichem Wege ein möglichst paradiesisches Körpergefühl zu erzeugen.

Eines der alarmierendsten Anzeichen für den Niedergang von Haight-Ashbury war ein nur wenige Tage vor Woodstock verübtes Massaker, das die gesamten USA in Atem hielt. Mitglieder einer zur Hippieszene zählenden Kommune hatten in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1969 die Filmschauspielerin Sharon Tate und vier weitere Personen ermordet. Die hochschwangere Frau des Regisseurs Roman Polanski wurde in ihrer Villa in Hollywood mit sechzehn Einstichen, in einer Blutlache liegend, aufgefunden.

Anhänger des 34-jährigen Hippies Charles Manson hatten, wie sich bald erwies, die als Ritualmord eingestufte Bluttat verübt. Ein Gericht verurteilte die Täter 1971 samt ihres Anführers zum Tode, später wurden die Urteile in lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt; Manson ist immer noch inhaftiert.

Nur wenige Wochen später starben kurz hintereinander drei Symbolfiguren der Hippieszene, ein Gitarrist, eine Sängerin und ein Poet. Zunächst am 19. September in London Jimi Hendrix, dessen Stern erst in Monterey aufgegangen war, am 4. Oktober in Los Angeles Janis Joplin, von der behauptet wurde, dass sie den Blues „wie keine Weiße“ (Village Voice) singen könne, und am 22. Oktober in Florida mit Jack Kerouac der wichtigste Repräsentant der Beat Generation. Bei allen dreien waren Drogen und/oder Alkohol im Spiel.

Als Janis Joplin, deren Vorliebe für Whiskey der Sorte Southern Comfort bekannt war, in einem Motelzimmer aufgefunden wurde, wies ihr Unterarm nicht weniger als vierzehn Einstiche auf. Sie hatte sich, was nicht wenige überraschte, Heroin gespritzt. Ihr letzter, gerade in einem Studio aufgenommener, von Kris Kristoffersen stammender Song war „Me And Bobby McGee“, jenes posthum veröffentlichte Lied mit der berühmten, gern zitierten Zeile „Freedom’s just another word for nothing left to loose“ – Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, nichts zu verlieren zu haben.

Das wenige Geld, das sie hinterließ, es sollen 2.500 Dollar gewesen sein, vertranken ihre Freunde, ganz so, wie sie es sich gewünscht hatte, auf einer großen Party. Anschließend wurde ihre Asche in den Pazifik gestreut. Doch es sollte noch weitaus schlimmer kommen. Als die Rolling Stones am 6. Dezember 1969 auf einer stillgelegten Autorennbahn in Altamont bei San Francisco ein so genanntes Free Concert gaben, um auf diese Weise zu kostenlosen Statisten für einen Tourneefilm zu kommen, wurde einer der Zuhörer vor laufenden Kameras direkt vor der Bühne ermordet.

Während die Band vor dreihunderttausend jungen Leuten „Sympathy For The Devil“ spielte, traten, prügelten und stachen Mitglieder der als Ordner angeworbenen Hells Angels auf den achtzehnjährigen Farbigen James Meredith so lange ein, bis er regungslos liegen blieb. Trotz des Vorfalls ging die Show weiter. Am Ende des Konzerts wurden drei Tote und über siebenhundert Verletzte gezählt. Auch die Hells Angels, die für ihre Ordnerdienste eine Lkw-Ladung Bier verlangt und auch bekommen haben sollen, gehörten zu Haight-Ashbury. Aus dem „Winter of Love“, in den die Flower-Power-Ära münden sollte, war spätestens jetzt ein Albtraum geworden.

V. Woodstock Nation

Als Woodstock vorüber war, breitete sich unter jenen, die dabei waren, trotz aller gegenläufigen Strömungen die Stimmung aus, an einem dreitägigen Gegenentwurf zur US-Gesellschaft beteiligt gewesen zu sein. Alles schien ganz einfach geworden zu sein – und zu werden. Man nehme eine große Wiese, engagiere ein paar Bands, baue eine Bühne auf, versammle sich in einer möglichst großen Menge und – Sonnenschein vorausgesetzt – genieße das Leben in vollen Zügen.

Alles sollte möglichst friedlich, spontan, kollektiv und lustbetont ablaufen. Einer, der diese Welle der Euphorie ungebremst aufnahm, war der Hippieradikale Abbie Hoffman. Er war davon überzeugt, in Woodstock einen „Trip in die Zukunft“ genommen zu haben. Nur wenige Tage nachdem die Hunderttausenden die Wiese des Farmers Max Yasgur wieder geräumt hatten, setzte er sich hin und schrieb im Verlag Random House innerhalb von zwei Wochen ein Buch mit dem programmatischen Titel „Woodstock Nation“.

Diese Entschlossenheit gründete, wie sich später herausstellte, in einer demütigenden Erfahrung, die Hoffman auf der Bühne von Woodstock hatte machen müssen. Als er kurz vor dem Auftritt der Who nach vorne gegangen war, um eine Rede für John Sinclair, den wegen Marihuanabesitzes zu zehn Jahren Gefängnis verurteilten Manager der Rockband MC5, zu halten, war er verprügelt worden. Pete Townshend, der der britischen Subkultur der Mods – proletarisch, aber gepflegt – entstammte und die Hippies schon immer verachtete, schlug, ohne zu wissen, worum es ging und mit wem er es zu tun hatte, auf Hoffman mit seiner Gitarre ein.

Dieses verhinderte politische Manifest der Öffentlichkeit vorzustellen, wollte Hoffman nun in seinem Buch nachholen. Er skizzierte darin ein Bild, das wie die Reinkarnation des Nationalen durch jene wirkte, die sich von der von ihnen geforderten Verteidigung der Nation abgewendet hatten: „Woodstock Nation bedeutet Verweigerung, bedeutet Abkehr, bedeutet Subversion. Woodstock Nation bedeutet den Bruch mit der bestehenden Gesellschaft, mit ihren Gesetzen, Traditionen, Werten und Normen. Woodstock Nation bedeutet, dass einer nicht länger mitmacht, dass er aufhört zu tun, was ihm gesagt wird, und stattdessen so zu leben versucht, wie er selbst es für richtig hält. Woodstock Nation bedeutet den Versuch, Alternativen zum schlechten Bestehenden zu entwickeln und die Veränderung hier und jetzt in Angriff zu nehmen. Woodstock Nation bedeutet, die Lücken und Schwächen des Systems auszunutzen, wo und wann immer sich die Möglichkeit dazu ergibt. Woodstock Nation bedeutet, dass jeder für sich selbst, aber zusammen mit den anderen das System untergräbt, indem er sich all das nimmt, was ihm verweigert, und all das tut, was ihm verboten wird. Woodstock Nation ist ein Vorgriff auf die befreite Gesellschaft, ist der Beginn der Revolution.“

Aus dem, was Hoffman als die „Woodstock experience“ bezeichnete, sollte eine Art Gegenmodell zur amerikanischen Gesellschaft werden: Woodstock Nation eben. Mit diesem Drang zum großen Ganzen hing auch, wie Hendrix bei seinem Auftritt unter Beweis gestellt hatte, die Fixierung auf eine bestimmte Symbolik zusammen. Seitdem der Krieg in Südostasien eskalierte und die Antikriegsbewegung in den USA immer weiter wuchs, häuften sich in der Öffentlichkeit Attacken auf nationale Symbole. Die amerikanische Nationalfahne, die Stars & Stripes, zu verbrennen war das beliebteste Symbol, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren.

Als Abbie Hoffman es wagte, vor dem Schwurgericht in Chicago mit einem Hemd zu erscheinen, das aus den Stars & Stripes geschneidert war, stürzten sich erboste Polizisten auf ihn und rissen es ihm vom Leib. Doch sie staunten nicht schlecht, was sie mit ihrem gewalttätigen Übergriff zum Vorschein brachten. Unter den Stofffetzen tauchte eine weitere Flagge auf, die des Vietcong. Die Staatshüter waren in eine Falle gelaufen und hatten sich gleich in doppelter Weise blamiert – ihre eigene Fahne zerrissen und damit die des militärischen Gegners freigelegt.

Der Körper der von der Manson-Family ermordeten Sharon Tate war in eine von Blut durchtränkte Nationalfahne eingewickelt. Die Attentäter hatten es offenbar darauf abgesehen, mit ihrer Mordtat zugleich auch die eigene Nation mit Blut zu besudeln. Es gab in jener Zeit allerdings auch unzählige Anzeichen der Verehrung des Nationalsymbols, wenn nicht gar der modisch-gegenkulturellen Vereinnahmung. So trat mit Jerry Garcia der Leadgitarrist der Grateful Dead zumeist mit einem Hut auf, der in den Farben und Mustern der Stars & Stripes gestaltet war.

VI. Popmusik als Vergemeinschaftungsform

Woodstock ist mehr als nur eine Momentaufnahme im Sommer 1969, es repräsentiert den Tagtraum von einer halben Million Aussteigern.

In ihm aufgehoben sind die Beat- ebenso wie die Hippiebewegung, die beiden entscheidenden Stationen der in San Francisco angesiedelten Subkultur. Der Beat ist der Schlag, der Puls, der Impuls. In Analogie zur „Lost Generation“, wie Gertrude Stein nach dem Ersten Weltkrieg die seinerzeitige Garde der jungen amerikanischen Schriftsteller wie Ernest Hemingway, John Dos Passos und Scott Fitzgerald bezeichnet hatte, nannten sich die Poeten der Bay Area nach dem Zweiten Weltkrieg „Beat Generation“ – auf die verlorene folgte die geschlagene Generation.

Für Haight-Ashburys Hippieszene spielten zwar auch Schriftsteller wie Allen Ginsberg, Ken Kesey, Gary Snider und Michael McClure eine zentrale Rolle, sie waren jedoch nichts weniger als Figuren des Übergangs. Schließlich wurden sie abgelöst von Rockmusikern, allerdings eher von Bands wie den Grateful Dead, Jefferson Airplane und Big Brother & The Holding Company als von einzelnen Stars wie Janis Joplin.

Die Musik war der Strom, die Strömung, in der sich die Vergemeinschaftung vollzog und die Subkultur als Gefühlszusammenhang konstituierte. Diese Tendenz, dass es um ein Lebensgefühl, eine Bewegung in der Zeit ging, kam bereits im Beat zum Ausdruck. So wie der Beat im Jazz eine bestimmte Haltung ausdrückte, so war der Beat in der literarischen Bewegung eine Metapher für die Musik. Doch erst in der Hippiebewegung wurde die Ausdrucksform zum Ton und nahm durch die Rockmusik die Gestalt eines musikalischen Stückes an.

Worum es ging, war die akustische Stimulierung von „Good Vibrations“. Wortvibrationen, wie sie in Ginsbergs Mammutgedicht „Howl“ zu hören waren, sollten in Klangvibrationen, wie sie in den perlend-vorantreibenden Percussionelementen von Santanas Latinrock zum Ausdruck kamen, übersetzt und deren geballte Energie schließlich in Vitalität umgesetzt werden.

VII. Der Hippie als Indianerimagination

Um erkennen zu können, was diese Bewegung damals war, lautet die Frage: Welchen Einfluss hatte der Vietnamkrieg auf diese Bewegung? Was für die „Lost Generation“ ebenso wie für die „Beaten Generation“ als selbstverständlich angenommen wird, dass es sich bei ihnen jeweils um kulturelle Reaktionen auf den Ersten beziehungsweise den Zweiten Weltkrieg gehandelt habe, gilt bislang nicht für die Protagonisten der „Woodstock-Generation“.

Das ist jedoch zumindest insofern verwunderlich, als es eine unübersehbare Koinzidenz gibt – die Gleichzeitigkeit, mit der 1965 der Vietnamkrieg ausbrach und sich die Hippiebewegung herausschälte. Ist das lediglich ein historischer Zufall gewesen oder hat die Bereitschaft, aus der US-Gesellschaft auszusteigen, etwas mit der Entscheidung der eigenen Regierung zu tun gehabt, ohne ein überzeugendes Mandat militärisch in einer Region zu intervenieren, deren Machtverhältnisse das eigene Land nur höchst indirekt tangierten?

Obwohl niemand behaupten kann, dass sich die Hippieszene aus dem öffentlichen Konflikt um die Rechtfertigbarkeit des Vietnamkrieges herausgehalten hätte, so ist das Bündel ihrer kulturellen Stile, ja ihr Lebensentwurf insgesamt, von einer derartig einfältigen Suche nach Frieden, Liebe und Glück geprägt gewesen, dass am ehesten von einem Kompensationsversuch gesprochen werden muss.

Haight-Ashbury war einerseits die abstrakte Negation der militärischen Aggressivität, die nicht nur den Ruf des eigenen Landes im Ausland, sondern auch das Selbstverständnis seiner Bürger im Inneren beschädigte, andererseits aber die konkrete Kompensation, die höchste nur denkbare Steigerungsform einer Betäubung. Von ihrem historischen Kontext her gesehen war die Hippiebewegung mit ihrer Glücksuche, ihrer Utopie des einfachen, aber guten Lebens und ihrer Entschiedenheit, sich auf allen nur denkbaren Wegen, mit biologischen wie chemischen, mit technischen wie elektronischen Mitteln in den Genuss künstlicher Paradiese zu versetzen, eine Fluchtbewegung.

Wie eng Rockmusik und Vietnamkrieg zusammenzugehören scheinen, bildet sich in Filmen wie Francis Ford Coppolas „Apocalypse Now“, einer surrealen Klangorgie, in der Helikopterangriffe und Napalminfernos mit dem düsteren Sound der Doors untermalt sind, und Barry Levinsons „Good Morning, Vietnam“ ab, der Geschichte eines Radiomoderators, der die GIs mit enervierender Stimme und einem zündenden Hitfeuerwerk bei Laune zu halten versucht.

Eine andere Frage ist die nach den Quellen für die unübersehbare Affinität der Hippies zu den Indianern. Erstaunlicherweise waren es nicht etwa die Schwarzen, die gerade ihren Aufstand probten, mit denen sich die Aussteiger identifiziert haben, sondern die Indianer, die bis dahin kaum Anzeichen für eine Rebellion gezeigt hatten. Eine der wichtigen Gruppierungen innerhalb der Szene trug den Namen „America Needs Indians“ (Amerika braucht Indianer) und setzte sich demonstrativ für die Ureinwohner des Landes ein.

Ihr Initiator Stewart Brand, Mitglied der Merry Pranksters, hatte sich eine Zeit lang in dem in Oregon gelegenen Reservat von Warm Springs aufgehalten und dabei die Überzeugung gewonnen, etwas für die Rechte der unterdrückten Minderheit unternehmen zu sollen. Kein Zufall dürfte es auch sein, dass die Titelfigur in Ken Keseys 1975 von Milos Forman erfolgreich verfilmtem Roman „Einer flog über das Kuckucksnest“ ein schizophrener Indianer ist. „Häuptling Broom“, ein Hüne an Gestalt, wagt den Ausbruch aus einer geschlossenen Anstalt.

Vieles spricht sogar dafür, dass die Figur des Hippies – ob bewusst oder unbewusst – aus einer Imagination des Indianers gewonnen worden ist. Nicht nur wegen der auffälligen Parallelen in der äußeren Erscheinung, sondern vor allem auch wegen des hohen Maßes an Übereinstimmung in der Haltung gegenüber Natur, Umwelt und Technik. Als Haight-Ashbury zerfiel, begründete Stewart Brand, einer von Ken Keseys Merry Pranksters, den „Whole Earth Catalog“ und wurde einer der ersten Aktivisten der Ökologiebewegung.

Geblieben ist von Haight-Ashbury mit seinem „Summer of Love“ und von Woodstock mit seinen „Three Days of Peace & Music“ vor allem der säuselnde Klangteppich einer Popmusik, in den erhebliche Teile des Alltagslebens, insbesondere Innovationen der Warenwelt, seien es Autos, Kühlschränke oder Computerprogramme, eingewickelt sind. Nichts eignet sich offenbar so sehr, den Warenfetischismus zu imaginieren, wie sie mit dem Touch des California Dreamin’ zu versehen.

Es ist nahe liegend, wie eng der psychedelic touch der Hippieszene und die virtual reality des Computerzeitalters beieinander liegen. Im einen wie im anderen Falle geht es um „künstliche Paradiese“. Nicht nur aus lokalen Gründen sind einige der wichtigsten Figuren aus der Flower-Power-Ära in der Computerbranche gelandet. Die Computermailbox „The Well“ etwa wurde von Stewart Brand begründet. Der Internetphilosoph Perry Barlow verfasste in der Anfangszeit die Songtexte der Grateful Dead. Und Paul Allen, einst Geschäftspartner von Bill Gates bei Microsoft, gründete in ihrer gemeinsamen Heimatstadt und dem gleichzeitigen Firmensitz Seattle ein Rockmuseum, das in der Form einer zertrümmerten E-Gitarre erbaut worden ist, um zugleich als Museum für den in den dortigen Slums geborenen Jimi Hendrix angesehen werden zu können.

Es wäre nicht auszudenken gewesen, was die damalige Haight-Ashbury-Szene mit der ihr eigenen Fantasie alles in die Wege geleitet hätte, wenn ihr die heutigen elektronischen Medien und das Internet zur Verfügung gestanden hätten. Wie sang einst Nina Hagen anno 1978 in ihrem Song über die „Glotze“: „Es ist ja alles so schön bunt hier.“

WOLFGANG KRAUSHAAR, Jahrgang 1948, Historiker und Politologe, arbeitet am Hamburger Institut für Sozialforschung. Bei Rogner & Bernhard veröffentlichte er „Die Protest-Chronik 1949–1959: Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie“ (Hamburg 1997). Elemente einer Protestchronik der Sechzigerjahre erscheinen regelmäßig im Mittelweg 36 , Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung