Die einzige erfolgreiche Revolution

Eine große Ausstellung in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen feiert die Renaissance des Surrealismus. Bretons Atelierwand wirkt vor dem Hintergrund der laufenden „documenta“ wie ein früher Abschied vom Eurozentrismus

Der Krieg hatte das Zerstören gelehrt, also zerschlugen auch sie zunächst einmal alles

von STEFAN KOLDEHOFF

Eine Zeit lang sah es so aus, als sei der Surrealismus eine Angelegenheit der abgeschlossenen Vergangenheit. An Magrittes Melonenmännern hatte man sich satt gesehen, Dalís hyperrealistische Vexierbilder aus weichen Uhren und Schubladentorsi waren von ihm selbst durch inflationäre Produktion und fragwürdige Reproduktion zu Wartezimmerdekorationen degradiert worden, und Miró – ach ja, der hatte in der Kunstgeschichte ja wohl auch mal eine bedeutende Rolle gespielt, bevor er sich nach dem Krieg, wie so viele Kollegen aus der Bewegung, ganz der Feier und der Vermarktung des eigenen Ich hingab. Beliebt waren ihre Arbeiten immer, schließlich riskierte man mit ihnen nichts: Die Details waren in der Regel zu erkennen, nur ihre Komposition warf Fragen auf. Ein rätselhafter Dalí machte aus dem spießigsten Ledercouch-Wohnzimmer ein vermeintlich intellektuelles Ambiente – der Surrealismus allerdings wurde auf diese Weise zu Tode geliebt. Was als subversiver Versuch begonnen hatte, Unbewusstes, Traumbilder, Drogenfantasien unmittelbar auf die Leinwand zu bringen, war irgendwann zu nüchtern geplantem Kalkül geworden. Eine Bewegung hatte sich zu dem machen lassen, was sie nie war und nie sein wollte: zum Stil. Der Kunstmarkt fraß seine Kinder.

Da mag es kaum verwundern, dass derselbe Kunstmarkt nun auch wieder zum Indikator für die gegenläufige Bewegung wird: Seit knapp zwei Jahren veranstalten die beiden großen internationalen Auktionshäuser Sotheby’s und Christie’s regelmäßig Auktionen, in denen ausschließlich surrealistische Kunst angeboten wird. Die Sammler scheinen darauf gewartet zu haben: Die erzielten Umsätze sind mehr als zufrieden stellend.

„Damals, zwischen den beiden Kriegen, spielte der Kunstmarkt für die Surrealisten überhaupt keine Rolle“, erzählt Werner Spies und blickt aus einem der Fenster im oberen Stock der „Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen“ hinaus auf den Düsseldorfer Grabbeplatz. Der 65-jährige Doyen der Surrealismus-Forschung, Picasso-Experte, Max-Ernst-Freund und ehemalige Direktor des Pariser Musée National d’Art Moderne im Centre Pompidou zeichnet verantwortlich für die umfassendste und wichtigste Ausstellung, die sich jemals dem Surrealismus gewidmet hat.

Mit großem Erfolg war sie im Frühjahr bereits vier Monate in Paris zu sehen gewesen, nun sind die rund 500 Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen und Bücher in Deutschland angekommen – jenem Land, das Spies zum Erstaunen mancher als das eigentliche Ursprungsland des Surrealismus präsentiert: „Louis Aragon hat mir einmal von jenem historischen Moment erzählt, als er und André Breton in Paris 1921 das Paket öffneten, das ihnen Max Ernst aus Köln geschickt hatte.“ Den Inhalt hatte der in Brühl geborene Ernst eigentlich selbst in die französische Hauptstadt bringen wollen, die Behörden verweigerten ihm aber das notwendige Visum. Also vertraute er rund 60 Collagen der Post an.

Erstaunt und zugleich verstört seien die Pariser Freunde beim Öffnen des Paketes gewesen, berichtete Aragon Werner Spies: „Sie hatten bis dahin keine Vorstellung davon gehabt, wie sich der Surrealismus visualisieren lassen könnte.“ Die Suche nach neuen Welten, nach der geforderten „Vorrangstellung der Träume“ und der gestalterischen Kraft des Unterbewusstseins ließ sich nicht stilistisch über formale Rezepte definieren, wie das etwa beim Kubismus oder dem Expressionismus möglich war.

Der Surrealismus lebte vom Miteinander, dem dialektischen Austausch – jeder reagierte auf den anderen. 1919 hatten Aragon und Breton gemeinsam mit Philippe Soupault zunächst die Zeitschrift Littérature gegründet, später stießen Tristan Tzsara und Man Ray zur Gruppe. Das erste „Manifest des Surrealismus“ und die erste Ausgabe der Zeitschrift La Révolution Surrealiste allerdings erschienen erst 1924 – drei Jahre nach der ersten französischen Übersetzung von Sigmund Freuds Buch „Psychoanalyse“. Von allen formalen Zwängen wollten die Initiatoren die Kunst befreien, nur noch Freiheit und Alogik sollten ihr Schaffen bestimmen.

Auch Max Ernsts Kölner Collagen stellten Aragon und Breton bereits 1921 in der Galerie „Au Sans Pareil“ zur Ausstellung „Jenseits der Malerei“ zusammen, die Werner Spies die „Kernzelle des Surrealismus“ nennt: „Es ist ja kein Zufall, dass diese Kunst nach dem Ersten Weltkrieg zu entstehen beginnt. Die jungen Leute konnten sich nicht vorstellen, wie das bürgerliche Leben mit bürgerlicher Rezeption von Kunst weitergehen sollte. Der Krieg hatte das Zerstören gelehrt, also zerschlugen auch sie zunächst einmal alles. Und dann kam Max Ernst mit seinen Collagen und baute mit ihnen aus der zerstörten, atomisierten, zerschnittenen Welt etwas Neues auf. Das war revolutionär, wie ich ohnehin den Surrealismus für die einzige Revolution halte, die nicht gescheitert ist.“

Entsprechend viel Raum gibt der Kurator Werner Spies denn auch seinem ehemaligen Freund Max Ernst. Er ist die zentrale Figur der Düsseldorfer Ausstellung, der Impulsgeber und Erneuerer. Gleich hinter Giorgio de Chirico zeigt Spies ihn zum ersten Mal als den großen Kommunikator – mit dem programmatischen Gruppenbildnis „Das Rendezvous der Freunde“. Versammelt sind neben Ernst, Aragon, Breton oder Buñuel auch Bezugsgrößen wie Dostojewski und Raffael – und einige der wenigen Frauen, die Platz in der Ausstellung haben, wenngleich nur als Muse: Gala Eluard, noch die Gattin des Dichters Paul Eluard, die später aber Salvador Dalí heiraten wird.

Gleich nebenan hat Spies ein auch kulturpolitisch herausragendes Ensemble zusammengestellt. Zu den sechs erhaltenen, von Max Ernst 1923 direkt auf den Gips gemalten Fragmenten, die ursprünglich die Wände von Paul Eluards Haus in Eaubonne zierten, zählt eines aus dem Besitz des Museums füt zeitgenössische Kunst in Teheran. Sein Gründungsdirektor, der heute in Wuppertal lebende und in Bochum lehrende Amerikanistik-Professor David Galloway, hatte das Bild Mitte der 70er-Jahre auf dem Kunstmarkt im Auftrag des Schahs von Persien gekauft. In Düsseldorf sah er es nun zum ersten Mal wieder: Nach der Machtübernahme durch Chomeini wanderte das Gemälde für lange Zeit ins Depot. Erst jetzt war es möglich, das fragile Wandgemälde in den Westen auszuleihen.

Anders als in Paris habe er sich in der Düsseldorfer „Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen“ räumlich richtig austoben können, erzählt Werner Spies und strahlt wie ein kleiner Junge. Sein Ausstellungsparcours ist weitgehend chronologisch aufgebaut und schafft es trotzdem, den Künstlern jeweils eigene Kabinette zu gewähren. Von De Chirico und Ernst führt der Weg zunächst zu Miró und Magritte, später dann zu Tanguy, Arp, Masson und Giacometti. Eigene Abteilungen sind der Fotografie – und hier vor allem Hans Bellmer und Man Ray, Claude Cahun und Eli Lotar – und dem Film gewidmet.

Das Objekt bricht erst spät in die Welt der Surrealisten ein. Der große Bastler Pablo Picasso, der sich zuvor schon malend dem Thema gestellt hat, gibt der Bewegung zugleich taktile Sinnlichkeit wie konvulsivische Schönheit. Werner Spies betont hier durch eine geschickte Ausstellungsarchitektur, die visuelle Bezüge zulässt, die wechselseitige Befruchtung zwischen dem Einzelgänger Picasso und der kollektiv organisierten surrealistischen Freundschaftsmaschinerie: „Die Surrealisten faszinierte an ihm das Magische seiner Kunst, nicht das Formalistische. Sie nahmen zum Beispiel die ‚Demoiselles d’Avignon‘ und ihre Bezüge zur afrikanischen Kunst als außereuropäischen, geradezu kannibalischen Schock wahr. In Picassos Bildern wiederum finden Formen und Prinzipien Eingang, die nur mit den Kategorien des Surrealismus zu fassen sind: Verzerrungen, Geschwindigkeit, Hysterie.“

André Bretons Atelierwand „Arche Noah“, die zum ersten und wohl auch zum letzten Mal das Centre Pompidou verlassen durfte, beschließt die Ausstellung.

Das wie in einem Setzkasten angeordnete Sammelsurium ethnografischer Objekte der Hopi- und Navajo-Indianer, von afrikanischem Kriegsgerät und Schmuck der Eskimos wirkt vor dem Hintergrund der laufenden „documenta“ wie ein früher Abschied vom Eurozentrismus. Vor allem aber dokumentiert die riesige Wandvitrine aus Bretons Atelier in der Rue Fontaine die profunde Breite und Tiefe der Bezüge, aus denen die Mitglieder der surrealistischen Bewegung schöpften, und sie deutet zugleich ihr Ende an.

Der Zweite Weltkrieg bedeutet das eigentliche Ende des Surrealismus. Was nach dem Krieg entsteht – Dalís Massenproduktion, Mirós unverbindliches Spätwerk, Magrittes Serienbilder – ist bestenfalls noch dessen schwacher Widerschein. Verschiedene Künstler reagieren noch auf den neuerlichen Weltenbrand. Max Ernst malt mit dem „fragmentierten Planten“ sein fragmentiertes Weltbild, Victor Brauner massakriert Hitlers Kopf mit Speer, Schwert, Hammer und Messer.

1939 wird André Breton zum Kriegsdienst eingezogen, werden Max Ernst und Hans Bellmer interniert, emigrieren Matta und Yves Tanguy in die USA. In einem Raum an der Madison Avenue in New York installieren André Breton und Marcel Duchamp im Oktober 1942 die Ausstellung „First Papers of Surrealism“: Auf Stellwänden hängen die Gemälde und Zeichnungen, dazwischen durchzieht ein Gewirr von hellen Fäden den Ausstellungsraum. Auf dem Foto, das zum Abschluss der Düsseldorfer Ausstellung diese Installation dokumentiert, wirken sie wie ein riesiges Spinngewebe: Der Surrealimus ist eingemottet, die Bewegung hat ihr Ende gefunden.

Bis 24. November, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf: „Surrealismus 1919–1944“. Katalog (Hatje Cantz Verlag) 39,00 €