Nur Vergangenheit schafft Zukunft

Europa-Premiere auf Kampnagel: Regisseur und Autor Kishu Izuchi präsentiert seinen Spielfilm „Jesus in Nirvana“ und lädt im Anschluss zur Diskussionsrunde über die Rolle der Vergangenheit für das Verstehen der Gegenwart

Ein antiquierter Plattenspieler, Vermächtnis eines toten Unbekannten. Die Nadel senkt sich auf den Plattenteller, und mit der Musik erwachen auch die Stimmen des längst Vergangenen zu neuem Leben. Doch für das Vergangene ist in der Regel kein Platz in einer geschäftig-gehetzten Gegenwart, die längst vergaß, wo sie entstand. Vernimmt man sie jedoch in einem gewissen Geisteszustand, kann ein Raum entstehen für gestorbene Erinnerungen an Zorn und Wut, die längst ihre Berechtigung verloren zu haben scheinen.

Hirayama ist Student und Aushilfe in einem Geschäft für gebrauchte Schallplatten. Seit ihn seine Freundin Naomi verlassen hat, verbringt er seine Tage nur noch im Dämmerzustand, der ihn immer weiter von seinem Traum entfernt, eines Tages ein großer Komponist zu werden. Dann ereilt ihn ein Anruf mit der Bitte, die Musiksammlung eines verstorbenen Mannes durchzusehen. In der Wohnung des Toten hört er plötzlich eine Stimme, und es erscheint die Gestalt einer mysteriösen Frau ...

Woher die Bilder kommen, die Hirayama mit der Zeit immer stärker vernimmt, weiß der Zuschauer schon aus der Vorgeschichte: Ein kleines japanisches Bergdorf wird während des Wirtschaftsaufschwungs in den 60er Jahren bei Dammbauarbeiten überschwemmt, und alle Dorfbewohner müssen ihre Heimat verlassen. Ein kleiner Junge hat in den Ruinen der Grundschule ein Holzkistchen versteckt, in der seine ganze Verbitterung und Wut eingeschlossen sind. Zum jungen Mann geworden, stirbt er Jahre später bei dem Versuch, sich bei den Verantwortlichen zu rächen. Seine Erinnerungen vermischen sich mehr und mehr mit den Gedanken des tagträumenden Hirayama und werden schließlich derart mächtig, dass dieser sich dazu bringen lässt, für das dem Jungen wiederfahrene Unrecht Rache zu üben.

Regisseur Kishu Izuchi wählte für seine Gesellschaftsparabel Hundred Years of Desperate Singing (Jesus in Nirvana) ausdrucksstarke Stilmittel: Der von Artefakten vergangener Zeiten strotzende Film (Langspielplatten, Telefone mit Wählscheiben, Musik der 70er zu Hippie-Kleidung) wurde mit einer 8mm-Kamera gedreht, deren grobkörnige und angenehm angestaubt wirkenden Bilder geradezu einladen zur Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem stilistischen Überfluss unserer heutigen Existenz.

Die Gegenwart hat mit ihrem ruhelosen Ruf nach Fortschritt – so klingt es aus dem Film heraus – zwar moderne Acessoires wie CDs und Handys hervorgebracht. Alle Erneuerung scheitert jedoch an dem Versuch, eine Vergangenheit zu begraben, mit der noch nicht abgeschlossen wurde.

Der Versuch von Kishu Izuchi, eine Versöhnung zwischen Gegenwart und Vergangenheit durch Konfrontation zu erzwingen, ist jetzt erstmalig in Europa zu sehen. Der Regisseur wird selbst eine kurze Einführung geben und lädt im Anschluss zur Diskussion. Corinna Kahl

Mi, 20.45 Uhr, Alabama (mit Vorfilm: Autumn 2001)