Nach dem Deichbruch

Norwegen hat sie schon hinter sich, in Dänemark steht sie noch aus: Skandinavische Romane zur Überschwemmung

Vor einigen Jahren wurde der Südosten Norwegens von einer schweren Überschwemmungskatastrophe heimgesucht. Sie inspirierte den Schriftsteller Jonny Halberg zu seinem Roman „Flommen“, zu Deutsch: „Die Flut“. Was geschieht mit den Menschen, die von einer Überschwemmungskatastrophe betroffen werden?

In „Flommen“ ist es die Familie Gjørstad. Robert lebt am Ufer der Kvenna, sein Vater ist bei einem Traktorunglück zu Tode gekommen. Er spricht intensiv dem Alkohol zu und lebt ziellos in den Tag hinein. Das genaue Gegenteil ist der gesetzestreue und ordnungsliebende Polizist Stein Ove – die zweite Hauptperson. Als die Flut kommt, verschwinden die Unterschiede. Robert und Stein sind gleichermaßen hilflos. Die Flut ist ein Ereignis, bei dem die Menschen die Kontrolle über sich und andere verlieren. Sie reißt in dem Tal alles mit sich und deckt dabei auf, was bisher im Verborgenen lag: Konflikte, Tragödien, Lebenslügen. Aber sie markiert auch, so Halberg, den Punkt, an dem man „zurückgehen kann, noch mal anfangen, schauen, ob die Welt eine andere werden kann“.

„Flommen“ wurde in Norwegen mit Lob und Preisen geradezu überhäuft. In diesem Jahr soll es unter dem Titel „Über alle Ufer“ auch auf Deutsch erscheinen. Bisher ist der 1962 geborene Jonny Halberg in Deutschland allenfalls als Drehbuchautor des Films „Wenn der Postmann gar nicht klingelt“ bekannt. Anders der Däne Ib Michael, von dem in deutscher Übersetzung unter anderem „Prinz“ und „Der letzte Reiter“ vorliegen und der im vergangen Jahr ebenfalls ein Buch über eine Flutkatastrophe veröffentlicht hat. In „Kejserens Atlas“ („Atlas des Kaisers“) ist die dänische Hauptstadt Kopenhagen in der nicht allzu fernen Zukunft infolge der Klimaveränderung vollständig überschwemmt – wie weltweit alle meernahen Regionen.

Ähnlich wie in Halbergs Roman verliert in „Kejserens Atlas“ eine Gesellschaft, die glaubt, alles kontrollieren zu können, ihr Selbstbewusstsein. Darüber hinaus wird die Flut zur apokalyptischen Metapher. Ib Michael sieht die Menschheit von den Übeln der modernen Zivilisation überschwemmt: von Krankheiten, Allergien und Chemiegiften. Das ist die Flut, der wir irgendwann ähnlich hilflos gegenüberstehen wie jetzt dem Wasser.

Bei Ib Michael ist Kopenhagen bereits im Meer verschwunden. In Jonny Halbergs „Flommen“ sitzen KatastrophentouristInnen mit ihren Picknickkörben am Berghang und bestaunen das in Wassermassen ertrunkene Tal. Ob nach der Flut wirklich ein Neuanfang geschieht, bleibt offen. Die Kvenna fließt am Schluss wieder in ihrem gewohnten Bett.

REINHARD WOLFF

Jonny Halberg: „Flommen“. Kolon Verlag, Oslo 2000, 274 S., 299 NKr Ib Michael: „Kejserens Atlas“. Gyldendal Verlag, Kopenhagen 2001, 410 S., 295 DKr