Groteske Mode

Reflex auf den Alptraum Wirklichkeit, Erbe des Tropikalismus: „Brazilectro“-Abend mit Dublex im Lounge

Zugegeben: Was seit einiger Zeit im Strom der – längst ins Geschmäcklerische übertriebenen – Mode vermeintlicher Latin-Grooves als „brasilianische“ Club-Tunes sich anbiedert, ist aufdringlich und nervt. Und das, obwohl ja gerade das Unaufdringliche und Zurückhaltende dieser Musik als brasilianisch verkauft wird, gepaart mit dem Glücksversprechen eines ewigen Sonntags. Aber eben diese Ruhe schlägt in Ideologie um, wo solche Musik zum Soundtrack der Krise gemodelt wird: Sie scheint gegen den Lärm Gelassenheit zu empfehlen. Die Krise wird nicht übertönt, sondern schlichtweg ignoriert.

Dies ist als Haltung schon den Brasilianern selbst angedichtet worden, gerade jüngst wieder angesichts der dortigen Wirtschaftsmisere. Richtig ist das nur mit einer entscheidenden Wendung: Ignoriert werden eine Ökonomie und ein Staat, dem sowieso niemand vertraut; die Gelassenheit konzentriert sich auf Solidarität jenseits des Marktes. Das hierzulande nun zur musikalischen Haltung zu machen, ist einigermaßen grotesk, wenn bedacht wird, dass vornehmlich solche Clubs mit brasilianischen Klängen beschallt werden, die als Treffpunkte von Ellenbogen-Konformisten gelten dürfen, die Konkurrenz und Leistung für ein menschliches Prinzip halten und Selbstaufgabe für ein ökonomisches. Und Melancholie und Trauer sind eben keine Kategorien ästhetischer Träumereien, sondern der Reflex auf den Alptraum Wirklichkeit.

Aber auch diese Mode verbirgt das Rettende, vermag beerbt zu werden. Der Tropikalismus hat das in Brasilien bereits in den Siebzigern vorgemacht, und nun sollte versucht werden, die neue Brasilienmode – übrigens weitgehend eine europäische – mit ihren eigenen Waffen, nämlich einen hier und jetzt propagierten Tropikalismus zu schlagen, um sie sich so anzueignen. Gelernt werden sollte von den berechtigten Erfolgen der Mode, zum Beispiel die mittlerweile in einer „Session 4“ vorliegende Compilation Brazilectro.

Das DJ-Team Dublex wird das Album jetzt mit einem brazilectronischen Abend vorstellen; vorgemerkt werden darf auch der 26. Oktober – dann gibt es rechtzeitig zum brasilianischen Sommeranfang das Programm noch einmal in der Betty-Ford-Klinik. Bis dahin: Ernst Bloch lesen, Erbschaft dieser Zeit.

Roger Behrens

Sonnabend, 22 Uhr, Lounge