„Die Isolation hat ihren Preis“

G. John Ikenberry geht hart mit der US-Regierung ins Gericht: „Bush hat die Missachtung der internationalen Gemeinschaft zum Prinzip erhoben.“ Der Professor für Geopolitik fordert deshalb die Europäer auf, Druck auszuüben und die USA wachzurütteln

Interview MICHAEL STRECK

taz: Herr Ikenberry, die USA haben nach dem 11. September nicht nur einen Krieg gegen den Terror begonnen, sondern auch einen deutlichen Strategiewechsel in der Außenpolitik vorgenommen: unilateral, aggressiv, mit der Option auf präventives Handeln. Washington definiert Bedrohungen, sieht seine Souveränität absolut und die anderer Staaten konditional. Was ist mit den USA nach dem 11. September passiert?

G. John Ikenberry: Dieser Tag hat die USA viel mehr verändert als die Welt. Er hatte eine gravierende Wirkung auf viele Menschen in diesem Land: wie sie ihre Außenwelt wahrnehmen, die Rolle der USA in der Welt und vor allem äußere Bedrohungen. Die Vereinigten Staaten sind mehr denn je gewillt, direkt zu handeln, um solche Bedrohungen zu eliminieren. In bestimmten Kreisen des außenpolitischen Establishments haben die Terroranschläge die Tendenzen in Richtung einer „Alleingangspolitik“ beschleunigt, die allerdings bereits vor dem 11. September existierten.

Nach den Anschlägen gab es die Hoffnung, die USA würden sich stärker internationalisieren. Warum geht das Land jetzt diesen Weg?

Bereits mit dem Ende des Kalten Krieges verlor eines der wichtigsten Motive des US-Engagements, die sowjetische Bedrohung, von der sich Europa und die USA gleichermaßen betroffen fühlten, an Bedeutung. Neokonservative und Ultrarechte sahen daher schon lange vor dem 11. September ihre Stunde gekommen, die USA in eine unilaterale Richtung zu drängen. Sie hegen eine fundamentale Abneigung gegen internationale Verträge und Regeln. Der Begriff „internationale Gemeinschaft“ ist dieser Gruppe sehr befremdlich.

Der 11. September war also nur ein willkommener Vorwand für diese Gruppe?

Ja, er gab ihnen eine Rechtfertigung und mehr Einfluss. Aber die Realitäten der Weltpolitik, sei es der Kampf gegen den Terror, seien es die anderen außenpolitischen Themen, werden die USA wieder zu multilateralen Positionen zurückbringen. Das letzte Wort hierzu ist noch nicht gesprochen. Aber es ist unstrittig: Der neue Unilateralismus hat kräftig an Boden gewonnen.

Woher rührt das Misstrauen gegen internationale Diplomatie?

Eine der Ideen, die diesen neuen Unilateralismus speisen, ist die hausgemachte Abneigung gegenüber internationalen Vereinbarungen. Es ist der konservative Blick, dass die Vereinten Nationen und internationale Verträge schlecht für die USA seien, da sie unsere Freiheit und Souveränität einschränken. Dies ist jedoch nur die Position einer Minderheit, die George W. Bush allerdings in Amt und Würden brachte. Sie vereinigt die christlichen Rechten und Neokonservativen, die nicht viel von der Vision jenes Amerikas halten, das in der Nachkriegzeit eine multilaterale Führungsrolle übernahm.

Ist Irak der erste Lackmustest dieser neuen außenpolitischen Richtung?

Ja. Dies ist ein kritischer Moment für die „Falken“, wie sie in Washington heißen. Werden sie sich durchsetzen mit ihrer Haltung, den Rest der Welt zu ignorieren, oder wird die Bush-Regierung am Ende zu einem moderateren Kurs zurückkehren, der die UN und unsere Alliierten einbindet? Das ist die offene Frage.

Sie klingen optimistisch: Für Sie scheint die Richtungsentscheidung noch offen und längst nicht getroffen.

Das ist richtig. Es gibt keinen Zweifel, dass die Welt etwas gegen Bagdad unternehmen muss, da der Irak gegen UN-Sicherheitsresolutionen über die Vernichtung von Massenvernichtungswaffen und die Zulassung von Inspektoren verstoßen hat. Dies ist die Position von Außenminister Colin Powell, der Briten und anderer europäischer Staaten. Aber es wäre der ultimativ falsche Schritt, sollten die USA im Namen der Durchsetzung von UN-Resolutionen selbst internationale Regeln verletzen. Dennoch: Die Irakfrage ist offen. Ich bin überzeugt, dass die USA zu einer gemäßigten Haltung zurückkehren, die eine Partnerschaft mit Europa und Asien beinhaltet und die gewillt ist, innerhalb multilateraler Institutionen zu agieren. Aber die Gruppe, die dem deutlich widerspricht, ist momentan sehr mächtig.

Sollte die Regierung aber für die absehbare Zukunft den unilateralen Pfad wählen: Was bedeutet die neue Situation für das globale geopolitsche Gefüge, wenn Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice sagt, die USA sollten eher „coalitions of the willing“ schmieden, die ihr Handeln unterstützen, statt die existierende multilaterale Infrastruktur zu nutzen?

Es wird die internationale Struktur degradieren, jedoch auch die Interessen der USA beeinträchtigen. Ich bin sehr besorgt über die Denkmuster von Condoleezza Rice, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und dessen Vize Paul Wolfowitz, um nur einige zu nennen. Sie verstehen nicht, dass die USA ihren Einfluss in der Welt nur durch Aktionen erreichen, die der Rest der Welt als legitim erachtet. Es mag sein, dass wir bei bestimmten Themen, die von grundlegender Bedeutung für uns sind, allein handeln müssen. Der Rest der Welt würde dies verstehen, wenn wir darüber hinaus zur gegenseitigen Zusammenarbeit bereit wären. Das Problem dieser Regierung aber ist, dass sie die Missachtung der internationalen Gemeinschaft zum Prinzip erhoben hat. Das ist nicht besonders geschickt.

Für Frau Rice gibt es überhaupt nur noch zwei außenpolitisch relevante nationale Interessen der USA: Terrorismus bekämpfen und verhindern, dass Staaten Massenvernichtungswaffen besitzen. Alle anderen Themen wie Armutsbekämpfung, Umweltschutz und Waffenkontrolle werden dem untergeordnet.

Das ist sehr gefährlich, da sie alle miteinander verknüpft sind.

Richard Haass, der politische Planungsdirektor im Außenministerium, nennt den neuen Kurs: die Grenzen der Souveränität. Sollte eine Regierung sich nicht an die von den USA definierten Prinzipien halten und zum Beispiel Terror unterstützen, dürfe man intervenieren. Wohin soll das führen?

Wenn die USA neue Regeln in der Weltpolitik proklamieren, um in anderen Staaten mit Militärgewalt präventiv zu intervenieren – und zwar selbst wenn diese Länder keine internationalen Regeln verletzt haben und wir nur glauben, sie hätten das Potenzial, uns zu schaden –, dann wird uns dieser Kurs schaden statt schützen. Was passiert, wenn andere Nationen uns nacheifern? Wollen wir wirklich, dass China, Russland oder Indien, ohne konkreten Vorwand, nur weil sie sich bedroht fühlen, eigenmächtig intervenieren? Das kann niemand ernsthaft beabsichtigen.

Haass nennt dieses neue Konzept verblüffenderweise „Integration“. Aber handelt es sich nicht viel eher um Desintegration?

Ja. Es gibt tiefe philosophische Gräben innerhalb der Regierung. Im Außenministerium mit Powell sitzen die Multilateralisten. Aber im Pentagon und im Weißen Haus glauben viele, dass wir nunmehr in einer völlig veränderten Welt leben. Sie glauben, dass es ein Zeichen der Schwäche ist, sich internationalen Regeln zu unterwerfen. Doch das ist falsch.

Was hat diese neue Strategie für Auswirkungen auf das transatlantische Verhältnis?

Die Europäer sollten die USA so energisch wie möglich drängen, multilateral zu handeln. Außerhalb der politischen Elite der Bush-Regierung gibt es viel mehr Übereinstimmung zwischen Positionen der US-Bevölkerung und der Europäer. Eine neue Umfrage zeigt, dass die Mehrheit der Amerikaner die Anwendung von militärischer Gewalt oder einen Einmarsch im Irak gutheißen will, falls die UNO dies autorisiert. Das entspricht der öffentlichen Meinung in Europa. Eine andere Studie ergibt, dass Amerikaner multilaterale Institutionen unterstützen. Es wäre ein großer Fehler, in dieser einen Fraktion der Bush-Regierung die gesamten USA zu sehen. Jene Hardliner sprechen nicht für die USA. Sie sind eine Minderheit und in wenigen Jahren womöglich Geschichte. Wir sollten dies nicht als neues Amerika porträtieren. Aber es ist eine Gruppe, die zurzeit leider viel Macht hat.

Welche Rolle sehen Sie auf Deutschland zukommen?

Deutschland hat eine Stimme, die hier gehört wird. Eine Stimme, die wichtig ist, um mit Washington zu kommunizieren. Deutschland stärkt zunehmend seinen internationalen Einfluss, ist aktiver in Peace-Keeping-Missionen und Nato-geführten Aktivitäten. Deutschland hat eine besondere Botschaft an die Außenwelt. Es definiert seine Identität über multilaterale Strukturen und hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg an Europa und die transatlantische Welt gebunden. Deutschland hat eine Pionierfunktion wahrgenommen: Es hat nach der Wiedervereinigung bewiesen, dass ein Land mächtiger und größer werden, sich jedoch gleichzeitig noch fester im multilateralen Gefüge verankern kann. Das ist die Botschaft, die Washington braucht.

Sie vertreten die These, die neue Doktrin werde fehlschlagen. Warum?

Erstens: Beim Thema Terrorismus brauchen die USA Partner. Der Krieg gegen den Terror ist kein Krieg – er ist eine Herausforderung an die Geheimdienste und die Justiz. Terror gedeiht in Ländern mit schwachen staatlichen Institutionen. Die internationale Gemeinschaft muss diese Staaten beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen unterstützen. Das ist eine langfristige, über mehrere Generationen reichende Aufgabe, die kein Land allein schultern kann. Die fundamentale Realität beim Umgang mit Terror ist multilateral. Wenn die USA es ernst meinen mit ihrem Kampf gegen den Terror, dann müssen sie umdenken. Zweitens: Dieser neoimperiale Ansatz ist nicht nachhaltig. Wenn die nächste Militärintervention viele Tote fordert, werden Amerikaner fragen, warum sie den Weltpolizisten allein spielen müssen, warum sie den Preis bezahlen.

Wer hat überhaupt das politische Gewicht in Washington, diesen neuen Kurs in Frage zu stellen?

Es sind erstaunlicherweise die moderaten Republikaner wie der ehemalige Außenminister James Baker, die diese Politik kritisieren. Ich bin geschockt, wie wenig die Demokraten auf die Barrikaden gehen. Aber ich glaube, dies ist nur eine Frage der Zeit. Wenn sich unser Land auf einen Krieg zubewegt, ist es anfangs für Kritiker schwer, sich Gehör zu verschaffen. Schnell gelangt man in den Geruch des fehlenden Patriotismus. In Afghanistan gab es eine direkte Verbindung zum 11. September. Das war nicht der Moment großer Diskussionen. Aber Irak steht in keiner Verbindung zu den Terroranschlägen. Jetzt ist die Zeit für eine heftige Debatte gereift. Die Bush-Regierung wird darüber hinaus feststellen, dass Isolation ihren Preis hat. Die politischen Kosten, als illegitime Supermacht angesehen zu werden, sind hoch. Das könnte auch eine Korrektivkraft sein.

Es wird kein zweites Römisches Reich geben?

Europa muss die USA drängen, dass dieses Empire ein offenes ist, eines der Partnerschaften, ein Reich der Demokratie. Die Europäer haben hierbei eine große Verantwortung. Sie müssen Druck ausüben, nicht passiv daneben stehen, sondern konstruktiv mit den USA kommunizieren. Wenn man so will, müssen sie unser Land schütteln und rufen: „Genug jetzt!“

Und noch etwas: Die versteckte gute Nachricht des 11. September ist – und die Irakfrage hat dies nur etwas verdrängt –, dass als Gegengewicht die alte Achse der einstigen Großmächte wieder aufleben könnte: Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Russland, China und Japan. Diese traditionellen Großmächte sind untereinander keine Gegner mehr und auch keine Feinde der USA. Vor allem jetzt im Kampf gegen den Terror sind alle auf der gleichen Seite. Das ist eine große Chance.