Jenseits des Illustren

Die Situation ist nicht zu Ende, wenn das Ding in der Kamera ist: Die Ausstellung „scheinbar sichtbar“ präsentiert Arbeiten der Stipendiaten für Dokumentarfotografie der Patriotischen Gesellschaft

Zwischen Dokument und Kunst, Reportage und Experiment

von CORINNA KAHL

Dokumentarfotografie, das war einmal: das Foto als Beweis. Ein unbestechlicher Zeuge tatsächlicher Ereignisse. Vor dem Hintergrund der rasanten technischen Entwicklungen und der Möglichkeiten der digitalen Verarbeitung schreckt man jedoch immer mehr davor zurück, das Ab-Bild für bare Münze zu nehmen. Kann Fotografie noch „Wahrheit“ transportieren? 13 Fotografen, die an der Hochschule für bildende Kunst studiert haben und Stipendiaten der Patriotischen Gesellschaft sind oder waren, diskutieren die Frage nach „Wahrheit“ in der Fotografie – zu sehen in der Ausstellung scheinbar sichtbar – Fotografie als Dokument und Projektion im Kunsthaus.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Anspruch auf Wahrheit in der Fotografie als deren wesentliche Eigenschaft verstanden. Einen Einblick in historische Ansätze berühmter Fotografen und Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts bietet die Schwester-Ausstellung Klassiker in der Halle Barlach K des Kunsthauses, in der Arbeiten aus den Fotoeditionen der Griffelkunst-Vereinigung zu sehen sind: Sozialkritisches von Zille, Künstlerisches von Man Ray, Konstruktivistisches von Rodtschenko und El Lissitzky, Historisches von Moholy-Nagy bis August Sander.

Die jungen Fotografen nutzen die technischen Neuerungen für neue Ausdrucksformen, für ihre Projektionen irgendwo zwischen Dokument und Kunst, zwischen klassischer Reportagefotografie und grafisch veredelter Experimentaldarstellung.

Die Ergebnisse einer umfassenden Recherche präsentieren Philipp Grassmann und Alexander Rischer: Sie fotografierten alle erhaltenen „Lanternes des Morts“. 30 dieser so genannten Totenleuchten – freistehende Skulpturen in Form einer Säule mit Laternenaufsatz – sind in Zentral- und Westfrankreich erhalten, sie stammen aus dem 11. bis 13. Jahrhundert. Per Zufall entdeckten die beiden Fotografen eine dieser Leuchten auf einer Reise und versuchten, die wenigen bestehenden Informationen zusammenzusammeln. „Die Brücke zur aktuellen Fragestellung liegt in der Lage der Objekte in einem wenig besiedelten Landschaftsraum“, erläutert Rischer. „Inwieweit hat der ländliche Siedlungsraum jenseits der städtischen Ballungsräume überhaupt eine Chance, weiter zu existieren?“

Sven Sedding dagegen beschreibt seine Bilder als eine „subjektive, keine topografische Arbeit“. Einzelne Momente und Erfahrungen will der 34-Jährige abbilden, Sichtweisen, die aber nicht zu einer Erklärung führen sollen. Alle Motive stammen aus seinem persönlichen Umfeld. „Den unterschiedlichen Bildern und Gegenständen haftet etwas Undefinierbares an, eine subjektiv gespeicherte Erfahrung, die sich auf den Betrachter überträgt.“

Tanja Bächlein sieht ihre Bilderkonstellation als eine „poetisch-assoziative Erzählweise, in etwa vergleichbar mit einem Gedicht“, in der die Kombination der Bilder ausschlaggebend ist. Zahlreich sind ihre vieldeutigen Motive, die sie in dreitägiger Arbeit zu einem bunten Potpourri von großen und kleinen, farbigen und schwarz-weißen, gerahmten und ungerahmten Fotografien arrangiert hat.

Gabi Steinhäuser trägt die Wirkung ihrer Arbeiten durch eine „räumliche Verlängerung“ in den Saal hinein, um so eine passive Haltung der Beobachter zu vermeiden. So wird eine Stuhlreihe an der Wand Teil der Gesamtansicht, und eine Säule im Raum zwingt zur „Stellungnahme“ der Betrachtenden, die nun selbst ein Teil der Präsentation geworden sind.

„Fotos als Träger von vorgefundenen Begebenheiten“, so lautet der Ausgangspunkt von Sabine Falk, die die Fotografie häufig als Recherche für ihre Arbeiten im Bereich der Architektur nutzt. Durch Veränderung – zum Beispiel durch ein überraschendes Element an einem bekannten Ort – will sie die selbstverständlichen Muster von Räumen ins Bewusstsein rufen und stellt sich die Frage, inwiefern durch die Architektur eine Konditionierung des Denkens erfolgen kann.

Eine eindeutige Aussage zur Diskussion um das Foto als Dokument kann und will nicht Ziel dieser Ausstellung sein, die aber reichhaltige Denkanstöße gibt und die Phantasie des Betrachters herausfordert. „Die ausgestellten Fotos zeichnet eine hartnäckige Haltung aus gegen die Zurichtung der Fotografie zum Illustren hin“, fasste Hanns Zischler das Anliegen der Ausstellung in seiner Eröffnungsrede zusammen. Alles, was an der Fotografie Konstruktion, vorgängige Reflexion und nachträgliche Bildlegung ist, sei hier nicht verdeckt vom Gestus des Illustren, ungefragt zu sagen „was Sache ist“. Noch eines haben die ausgestellten Arbeiten gemein: Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen.

Di–So, 11–18 Uhr, Kunsthaus Hamburg; bis 29. September