Die Chemie bleibt kompliziert

Die Polen haben spät erkannt, welche Chancen sich durch Rot-Grün für die deutsch-polnischen Beziehungen ergeben. Auch heute wollen die wenigsten Partei ergreifen

Nach einem halben Jahr waren Schröder und Fischer öfter nach Polen gekommen als Kohl in 16 Jahren

Von Warschau aus betrachtet stand der Auftakt der rot-grünen Koalition in Deutschland unter keinem guten Stern. Die SPD hatte bei Solidarność schon seit 1981 einen schlechten Ruf. Die polnische Gewerkschaftsbewegung fühlte sich sowohl von Willy Brandt als auch von Helmut Schmidt vor den Kopf gestoßen. Die Vorstellung, die Sozis trieben es nur mit den „Roten“, während die „Schwarzen“ die Guten seien, hatte sich in den Köpfen der Solidarność-Politiker, die 1998 regierten, so festgefressen, dass sie den Machtwechsel in Bonn fast nicht wahrnehmen wollen.

Polens politische Elite war so sehr auf das Denkmal Helmut Kohl eingestellt, dass sie sich weder Gerhard Schröder noch Joschka Fischer an der Macht vorstellen wollte. Das führte zu diplomatischen Petitessen, etwa verspäteten Glückwünschen der polnischen Regierung an die Wahlsieger. Auch die meisten Kommentare der polnischen Presse waren missmutig: Deutschland wende sich von Polen ab, hieß die Parole.

Doch die Realität war eine andere – zumal die deutsch-polnischen Beziehungen auch unter Kohls christdemokratisch-liberalen Regierungen nicht ohne Spannungen gewesen waren. Seine Hinhaltetaktik im Frühjahr 1990 in Sachen Annerkennung der deutsch-polnischen Grenze oder die Nichteinladung Walesas zur Feier des 50. Jahrestages des Kriegsendes 1995 zeigte, dass der Kanzler der Wiedervereinigung nur unter ehemaligen Großmächten als seinesgleichen weilen wollte. Auch Kohls Versprechen, Polen werde 2000 Vollmitglied der EU sein, erwies sich schnell als reines Lippenbekenntnis.

Dass sich mit dem Einzug Gerhard Schröders ins Kanzler- und Joschka Fischers ins Auswärtige Amt vor allem neue Chancen für die deutsch-polnischen Beziehungen ergaben, nahm man in Polen nur langsam wahr. Die Äußerung Fischers etwa, dass die Nato von der Möglichkeit eines atomaren Erstschlags abrücken solle, rief blankes Entsetzen hervor. Da haben wir die Bescherung, hieß es in Warschau, kaum sind wir der Nato beigetreten, kastrieren die deutschen Pazifisten die Allianz. Auf der anderen Seite stellte man überrascht fest, dass Schröder gerade dort bereit war, ernst zu machen, wo Kohl gemauert hatte: in der Frage der Entschädigungen für die Zwangsarbeiter. Nun ja, sagten die Skeptiker an der Weichsel, das ist doch nicht der Kanzler, das sind die US-Sammelklagen. Die deutsche Wirtschaft fürchtet eben um ihren Absatz.

Aber wider die polnischen Erwartungen entdeckte Rot-Grün bald eine eigene polnische Ader. Schon nach einem halben Jahr stellten die verblüfften Polen fest, dass Schröder und Fischer öfter nach Polen gekommen waren als Kohl in seinen 16 beziehungsweise 8 Amtsjahren nach der Wende. Fischer gar als „Student“, der bei seiner ersten Visite in Warschau eine Art Seminarstunde beim polnischen Außenminister Professor Bronislaw Geremek genoss, wie er selbst elegant 1999 an der FU beteuerte.

Zwischen dem Recken der „Grünen“ und dem Großkopfeten der Solidarność bestand auf Anhieb eine Affinität. Beide waren keine Berufsdiplomaten, beide kamen aus einer außenparlamentarischen Bewegung, auch wenn die polnische Solidarność und die Frankfurter Spontiszene der Siebzigerjahre recht wenig miteinander gemein hatten. Und sie hatten beide ein gutes Gespür für Europa und für die Bürden und Chancen der europäischen Geschichte. Auch wenn Geremek eher zögerlich auf Fischers „Berliner Rede“ reagierte und den Vorstoß seines Amtskollegen in Richtung einer „Bundesrepublik Europa“ als verfrüht erachtete, die ersten Keime dieser Rede kann man in einem gemeinsamen Artikel von Fischer und Geremek, der im Januar 2001 im Tagesspiegel und in der Rzeczpospolita erschien, durchschimmern sehen.

Schwieriger war das Verhältnis zwischen den Regierungschefs. Dass Gerhard Schröder und Jerzy Buzek nicht aus demselben Holz geschnitzt waren, konnte man im Frühjahr 2000 beim Treffen der beiden in Gnesen beobachten. Dem konservativen Solidarność-Politiker aus der schlesischen Provinz galten historische Parallelen, die tausend Jahre zurückreichten, viel, dem Niedersachsen sichtlich weniger. Schröder war damals mit der Greencard für Informatiker beschäftigt. Die beiden schauten aneinander vorbei, auch wenn sie gelegentlich von der intensiven technologischen Zusammenarbeit in der Grenzregion sprachen. Die tagespolitischen Querelen mit den deutschen Wählern, die keineswegs beglückt der Erweiterung der EU gerade um Polen entgegensahen, und mit den juristischen Kleinkriegen um die Umsetzung der Entschädigungen belasteten die bilateralen Beziehungen.

Dass es voranging, konnte man allerdings daran ermessen, dass mit Buzek ausgerechnet ein Ministerpräsident, der den nationalkonservativen Flügel der Solidarność vertrat, die Initiative ergriff, in Warschau einen Willy-Brandt-Platz in der Nähe des Ghettodenkmals zu errichten. Doch die Geste kam zu spät. In Polen begann der Wahlkampf, den die Solidarność-Parteien im Herbst kläglich verloren.

1998 war Polens Elite so auf Kohl eingestellt, dass sie sich niemand anderen an der Macht vorstellen wollte

Nach dem September 2001 entstand für die parteipolitische Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen vordergründig eine günstige Konstellation. Schon früher stimmte die Chemie zwischen dem SPD-Kanzler und dem polnischen Staatspräsidenten, Aleksander Kwaśniewski, der 2000 für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt wurde. Die Tatsache, dass der polnische Neosozialdemokrat als Hauptredner zum deutschen Nationalfeiertag am 3. Oktober 2001 verpflichtet wurde, zeigte die Tragfähigkeit dieser gemeinsamen Affinität.

Dennoch sind die deutsch-polnischen Beziehungen nach vier Jahren rot-grüner Regierung weit von der guten Chemie und der Affinität der Spitzenpolitiker entfernt. Die Meinungsumfragen sind in beiden Ländern ungünstig. In Polen argwöhnt man, dass ausgerechnet die deutschen Politiker, die sozial- wie die christdemokratischen, die Osterweiterung der Europäischen Union gar nicht vorantreiben wollen. Sie verdächtigen sie, den Polen „sieben magere Jahre“ bereiten zu wollen, indem sie ihnen den Zugang zu ihrem Arbeitsmarkt erst einmal versperren und polnischen Bauern das Recht auf Direktzahlungen streitig machen. Dass auch sozialdemokratische Politiker wie Otto Schily oder Peter Glotz in die deutsch-nationale Kalesche eingestiegen zu sein scheinen, macht die Sache für die polnische Öffentlichkeit nicht besser.

Kurz vor der Bundestagswahl am 22. September fällt es den meisten Polen schwer, Partei zu ergreifen. Für Schröder und Fischer erwärmen sich einige, aber nicht die Mehrheit. Von Stoiber schlägt den Polen allerdings eisige Kaltschnäuzigkeit und provinzieller Zynismus entgegen, der wahrscheinlich nicht so schnell in welterfahrene Verantwortung für unseren Kontinent und insbesondere für eine erweiterte, funktionsfähige und nicht bayrisch-egoistisch missbrauchte EU umschlagen kann. Von der Weichsel aus gesehen ist das das Traurige am deutschen Wahlkampf. ADAM KRZEMINSKI