Das Glück der Anderen

Die Pflicht zu schreiben und die Dinge zu benennen: Die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska las im Haus der Kulturen der Welt

In seiner Essaysammlung „El laberinto de la soledad“ entwickelt Octavio Paz ein Modell zur Erklärung der mexikanischen Psyche: Mit dem Wort „soledad“, Einsamkeit, beschreibt er die Haltung eines Volkes, dessen Ursprung in der Vergewaltigung der aztekischen Kultur durch die spanischen Eroberer liegt. Diesem Ursprung begegnet der Mexikaner nur, indem er die eigene Herkunft verleugnet.

Elena Poniatowska, die am Sonntag bei dem Festival MEXartes zu Gast war, hat einen polnischen Vater und eine mexikanische Mutter. Sie ist 1933 in Frankreich geboren und hat dort ihre ersten Lebensjahre verbracht, ohne spanisch zu sprechen. Erst 1942 kam sie mit ihrer Mutter nach Mexiko, in deren Heimat. Der Mythos der in der Conquista begründeten illegitimen Geburt der Mexikaner, den Octavio Paz anführt, greift im Fall von Poniatowska womöglich zu kurz. Sie ist mexikanischer Herkunft, und spätestens seit sie sich mit 21 Jahren entschlossen hat, Journalistin zu werden, kann von „soledad“ im Sinne von Paz keine Rede mehr sein: Ihr „Ursprung“ ist die spanische Sprache, die Poniatowska zunächst auf der Straße gelernt hat und sie auf die sozialen Belange der Unterschicht hat aufmerksam werden lassen.

Sie ist der Schlüssel zu einem Engagement, das ebenso sozialkritisch wie literarisch ist und das Poniatowska weit über Mexiko hinaus bekannt gemacht hat. Elena Poniatowska ist heute so etwas wie die „Grande Dame“ der mexikanischen Literatur, aber ihr eigener Anspruch ist ein anderer: „Ich bin Journalistin“, sagt sie am Sonntag nach ihrer Lesung im Haus der Kulturen der Welt, „das Schreiben ist meine Aufgabe.“

Eine Aufgabe, der sie sich seit 1969 auf besondere Art und Weise stellt. Damals führte sie mit ihrem Buch „Hasta no verte, Jesús mío“ den Dokumentarroman in die mexikanische Literatur ein. Dieser erste Roman stützt sich auf Interviews der Autorin mit der Landarbeiterin Jesusa Palancares, deren Leben in den Erzählungen zu einer Art Spiegel der mexikanischen Geschichte wird.

Auch Poniatowskas folgendes Buch folgt einem ähnlichen Muster: „La noche de Tlatelolco“ beschreibt das Massaker, das 1968 an demonstrierenden Studenten auf dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt verübt worden ist. Gerade weil versucht wurde, die Geschehnisse zu vertuschen, wollte Elena Poniatowska mit ihrer Sammlung von mündlichen Zeugnissen und Analysen diesen Versuch unterlaufen.

Dass sie in ihren Texten insbesondere den stummen Randfiguren der Gesellschaft ihre Stimme leiht, ließ Elena Poniatowska schließlich auch zu einer herausragenden Vertreterin einer mexikanischen Frauenliteratur werden. Oft porträtiert sie Frauen, die gegen ungerechte Verhältnisse aufbegehren und für sich selbst eine Unabhängigkeit einfordern, wie sie gerade in den ländlichen Gegenden Mexikos auch heute noch nicht üblich ist.

Auch zwei der drei Texte, die die Autorin in Berlin vorstellte, könnte man in diesem Zusammenhang verorten, auch wenn „Die Nachricht“ und „Das Glück“ Liebesgeschichten im klassischen Sinne sind, verzweifelte Botschaften einer namenlosen Frau an den geliebten und abwesenden Mann. In beiden Geschichten sind die Liebenden die ganze Welt, die Gesellschaft bleibt draußen.

Trotzdem spricht aus den Erzählungen auch die Stimme von Poniatowskas dokumentarischen und politisch engagierten Romanen: Beide sind eben keine „Märchen, die in der Routine der Prinzenpaare enden“, wie es in „Das Glück“ heißt, und am Ende ist man doch „unabänderlich, ausweglos, hoffnungslos allein“. Dass es sich lohnt, die Dinge beim Namen zu nennen, hat Elena Poniatowska mit ihrem Engagement bewiesen. ANNE KRAUME