Rot, grün, schwarz oder gelb

In der taz geriet der Abend der Bundestagswahl zum Wettlauf mit der Zeit in großer Ratlosigkeit über das Ergebnis. Denn als der Redaktionsschluss nahte, konnte noch niemand mit Sicherheit sagen, wer die nächste Regierung stellen würde

von KLAUS HILLENBRAND

Wählen ist ja so einfach. Ein kurzer Gang ins nächste Wahllokal, zwei Kreuze und ein Wahlabend vor dem Fernseher zwecks Überprüfung, ob die eigene Wahl auch das mit bewirkt hat, was ganz persönlich gewünscht war. Und am nächsten Morgen wundert man sich vielleicht, dass die eigene Zeitung nicht in der Lage war, das Endergebnis profunde abzubilden und zu analysieren, obwohl das doch schon gegen 0.30 in der Nacht so gut wie feststand. Tja.

Sechs Drucktermine

Wahlberichterstattung ist gar nicht so einfach. Sondern nervend. Stressig. Und wenn es nicht gelingt, das Ergebnis ins Blatt zu heben, auch noch niederschmetternd. Obwohl doch alles geklappt hat mit sechs verschiedenen Andruckterminen in drei unterschiedlichen Druckereien, vier vorbereiteten Austauschseiten, aktualisierten Tabellen, der Datenübertragung von sieben Korrespondenten, der Zeilenzahl, den Dachzeilen …

Wie das geht? Oder besser, wie es eben doch nicht geht?

Ein taz-Wahlabend beginnt natürlich nicht am Abend selbst, sondern gut zwei Wochen vorher mit ausführlichen Gesprächen mit der Vertriebsabteilung. Normalerweise erscheint die taz täglich mit zwei Andrucken. Weil das Blatt im Gegensatz zu Lokalzeitungen von der hintersten Ecke bei Passau bis auf die Insel Amrum geliefert wird, liegt der übliche Redaktionsschluss mit 17.10 Uhr furchtbar früh. Der zweite Andruck – vor allem für West- und Norddeutschland – erlaubt es, die Zeitung noch bis 19.00 Uhr zu aktualisieren.

Für einen Wahlabend ist das natürlich viel zu früh. Geradezu indiskutabel. Die Redaktion würde selbstverständlich auch bis 2.00 Uhr früh aktualisieren. Doch dann käme leider keine Zeitung mehr in die Briefkästen. Dem Vertrieb bleibt die kunstvolle Aufgabe, das Mögliche mit dem Gewünschten in Übereinstimmung zu bringen, Druckplattenwechsel vorzubereiten und Lkw-Touren nach hinten zu verschieben. Heraus kommt dabei ein DIN-A 4-Blatt voller Zahlen, deren Einhaltung zwingend geboten ist. Denn dort stehen unter anderem die Uhrzeiten, wann eine Ausgabe redaktionell fertiggestellt sein muss. MUSS!

Armes Luxemburg! Denn letzten Montag, dem Tag nach der Wahl, erhielten unsere Luxemburger Abonnenten die inaktuellste Ausgabe: Redaktionsschluss 17.10 Uhr. Über die Bundestagswahl stand dort keine Zeile. Doch wir entschuldigen uns nicht. Es ging nicht anders.

Wenn die Redaktionsschluss-Daten da sind, beginnen die Gespräche in der Redaktion. Was produzieren wir in welcher Ausgabe? Welcher Kollege geht zu welcher Partei? Welcher Redakteur redigiert welchen Text? Welche Texte wollen wir überhaupt? Und wie lange sollen sie jeweils werden? Weil auch Journalisten keine Propheten sind und am Wahlabend selbst die Zeit viel zu knapp ist, wird vorgeplant: Der Text über die Partei, die uns am am Wahlabend am drittwichtigsten erscheinen wird, kommt zum Beispiel auf die Seite 5 oben. Mecklenburg-Vorpommern auf die 4 unten. Vergesst die Tabelle nicht. Wenn das man gut geht.

Sonntag, den 22. September, 17.00 Uhr: Normalerweise sind wie schlauer als Sie. Denn die berühmte „Nachfrage“, bei der rund 20.000 Wähler nach Verlassen ihres Wahllokals gefragt werden, wem sie gerade ihr Kreuzchen gegeben haben, und die im Fernsehen immer um Punkt 18.00 Uhr veröffentlicht wird, ist den Parteioberen schon gut eine Stunde vorher bekannt. Die Korrespondenten fragen sie bei den Politikern ab, und so landen die Zahlen beim Chef vom Dienst, der dadurch früher planen kann. Oder auch nicht. Denn am letzten Sonntag sah die eine Nachfrage die Union weit vorn, die andere aber die SPD. Die Grünen erhielten mal 8, mal fast 10 Prozent – nur das Schicksal von Westerwelles FDP schien da schon einmütig besiegelt. Die Mehrheiten blieben rätselhaft.

Umweltminister Fischer

18.00 Uhr: Die veröffentlichten Zahlen sind auch nicht besser. Der Seite-1-Redakteur hat jetzt genau 20 Minuten Zeit für die nächste Ausgabe, die erste, die überhaupt über die Wahl berichtet. Er wird fertig, als die ersten Hochrechnungen erscheinen. Um 18.40 Uhr geht die taz in der Frankfurter Druckerei für Südbayern und Baden-Württemberg in Druck. Jetzt bleibt Zeit bis 18.50 Uhr für die nächste Ausgabe. Bis dahin wird die Seite 1 aktualisiert und eine neue Seite 3 mit ersten Analysen eingespannt. Alles klappt. Aber viel schlauer geworden sind wir deswegen immer noch nicht.

20.00 Uhr: Wieder eine neue Seite 1, dazu jetzt vier aktuelle Wahlseiten. Knapp 30 taz-Redakteure sind jetzt im Stress, dazu die Technik und der Vertrieb. Stoiber jubelt über seinen Wahlsieg, Schröder erscheint griesgrämig vor den Kameras. Soll die Schlagzeile für eine schwarz-gelbe Zukunft geändert werden? Wir entscheiden uns dagegen. Ströbele erkämpft für die Grünen ein Direktmandat. Immer noch zwei Direktmandate und keine 5 Prozent für die PDS. Der neue Kommentar hat Verspätung. Und in einem Zitatkasten mutiert Joschka Fischer in der Hektik zum Bundesumweltminister. Aber die taz für West- und Norddeutschland ist pünktlich fertig.

21.00 Uhr: Die „Elefantenrunde“ bei ARD und ZDF ist gelaufen. Doch ein klares Ergebnis lässt immer noch auf sich warten. Eine neue Seite 1 wird produziert, vier Wahlseiten verbessert, das taz-Buffet geplündert. Fischer wird im Zitatkasten wieder zum Außenminister. Über die Zahl der Überhangmandate behauptet jeder Sender etwas anderes. Wir bleiben bei der Schlagzeile. In der ARD läuft jetzt die „Lindenstraße“.

21.45 Uhr: Das ZDF setzt jetzt auf eine rot-grüne Mehrheit. Doch die ARD hält dagegen: Patt oder Schwarz-Gelb. Uns bleibt die Aktualisierung der Wahltabellen. Doch statt 21.45 Uhr steht da am nächsten Morgen als Entstehungsdatum 20.00 Uhr in der taz. Sieht alt aus.

22.00 Uhr: Der Abend in der taz ist gelaufen, die Wahl nicht. Die Technik übeträgt die letzten Seiten per Datenleitung an die Berliner Druckerei. Dort streikt kurz darauf eine Maschine: Die taz für Mecklenburg-Vorpommern stürzt ab. Manche Redakteure zieht es zu Wahlpartys der Parteien, einige in die Kneipe, andere wollen nur noch ins Bett.

Und die taz-Schlagzeile „Strauß war besser“? Sie hat mangels rechtzeitigen Wahlergebnisses alle Ausgaben durchgestanden. Und stimmt immerhin. Entstanden war sie fünf Tage vor der Wahl – auf dem Klo.