Leider kein Märchen

Arbeiten für nur einen Euro Lohn die Stunde? Wo gibt’s denn so was? Im deutschen Sozialhilfesystem zum Beispiel, bei der so genannten gemeinnützigen und zusätzlichen Arbeit

von CORNELIA KURTH

Es war einmal eine junge Frau, die lebte ganz allein mit ihrem Kind in der kleinen Stadt. Sie arbeitete in einer Schule, wo sie die Vorschulkinder betreute, worüber der Schuldirektor sehr froh war, denn man hatte lange nach einer geeigneten Person gesucht, aber niemanden gefunden. Die Stadt, zuständig für entsprechende Arbeitsverträge, wollte nämlich an dieser Schule keine feste Stelle für die Vorschulkinderbetreuung einrichten, und so gab es anfangs keine Betreuung und immer mehr Eltern meldeten ihre Kinder an einer anderen Schule an. Da kam es gerade recht, dass die junge Frau aus Sorge um ihr vernachlässigtes Kind ihre ganztägige Ausbildung zur Erzieherin abbrechen musste und Sozialhilfe beantragte. „Wie schön!“, sagte der Bürgermeister. „Diese junge Frau kann mit Kindern umgehen. So soll sie als Sozialhilfeempfängerin ein wenig gemeinnützige und zusätzliche Arbeit leisten und für zwei Mark Aufwandsentschädigung pro Stunde die Kinder betreuen.“

So wurde ihr beim Sozialamt ein Zettel mit der Adresse der Schule in die Hand gedrückt, und schon eine Woche nach dem ersten Gespräch begann sie mit ihrer Arbeit. Sie hatte immer gute Zensuren während ihrer Ausbildung gehabt, und schnell zeigte sich, dass man kaum jemand Besseren hätte finden können. Weil ihre Arbeit ja nur eine vorläufige sein sollte und deshalb kein Etat für Bastelmaterial eingerichtet worden war, verwendete sie sogar ihre Aufwandsentschädigung, um Papier, Stifte, Kleber und alle nötigen Dinge zu besorgen. „Vielleicht“, sagte man ihr, „werden wir Sie im nächsten Jahr sogar richtig übernehmen.“

Ein Jahr verging, und die Stadtoberen baten die junge Frau zu einem Gespräch, in dem sie ihr anrieten, die gemeinnützige und zusätzliche Arbeit ein weiteres Jahr fortzusetzen. „Ja, aber ganz ohne Vertrag …“, sagte die junge Frau, die es nicht gewohnt war, mit den Oberen einer Stadt zu reden. „Soll das denn immer so weitergehen?“ Da klopften ihr die Stadtoberen auf die Schulter und sagten: „Wieso, macht es Ihnen denn keinen Spaß?“

Doch, die Arbeit machte ihr großen Spaß. Zwanzig Stunden in der Woche betreute sie zwanzig Kinder, ganz allein und selbstbestimmt. Weniger angenehm war es, wenn jemand sie nach ihrem Beruf fragte und sie nicht recht wusste, was sie antworten sollte, weil sie ja eigentlich Sozialhilfeempfängerin war. Sehr wohl auch spürte sie, dass die fest angestellten Betreuerinnen der richtigen Schulkinder sie nicht ernst nahmen. Und das Sozialhilfegeld, für das sie allzuoft dem kühlen Sachbearbeiter vom Sozialamt gegenübersaß, reichte nicht vorne und nicht hinten.

„Ich meine ja nur, weil man nicht länger als ein Jahr höchstens so eine Arbeit machen soll, wegen der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt“, sagte die junge Frau zu den Stadtoberen und wiederholte damit, was ihr eine Freundin erklärt hatte. „Ich hätte gern eine richtige Anstellung, denn nur gemeinnützig und zusätzlich ist diese Arbeit nicht, man braucht mich ja unbedingt.“

Sie hatte ja Recht, die junge Frau, nur war sie sich nicht sicher, ob sie wirklich im Recht sei. „Na, na!, wir können Sie auch zum Unkrautrupfen im Park anstellen“, hieß es von den Stadtoberen. Und das wollte die junge Frau auf keinen Fall. Schon, damit ihr Kind nicht gehänselt würde, wollte sie das nicht.

Also arbeitete sie ein weiteres Jahr mit einer neuen Vorschulklasse, und alle waren sehr zufrieden mit ihr, so dass, als auch dieses Jahr vergangen war, schon das nächste Jahr der gemeinnützigen und zusätzlichen Arbeit angesagt wurde. Die junge Frau fragte ihren Sachbearbeiter, ob das denn alles so richtig sei, immer weiter und immer noch. Ja, es könne gar nicht anders sein, lautete die Antwort, das ist alles von oben abgeklärt. Was sie nur immer habe, schließlich bekäme man Sozialhilfe nicht einfach so umsonst, auch wenn das manchen Menschen lieber wäre.

Und so ergab es sich, dass die junge Frau manchmal etwas bitter reagierte, wenn man sie um zusätzliche Arbeitsstunden bei Betriebs- oder Sportfesten bat, und dass sie sich manchmal auch wütend umwandte, wenn es wieder hieß, sie dürfe nicht einfach das Spielzeug der richtigen Schulkinder belegen und auch deren Bastelmaterial weiterhin nicht benutzen. „Ich weiß, dass ihr glaubt, ihr wärt was Besseres als ich“, sagte sie zu den Betreuerinnen der Schulkinder. „Aber ihr seid nichts Besseres!“ Und diese schüttelten bedenklich den Kopf über die unvermutete Heftigkeit der jungen Frau.

Als sie nun fast drei Jahre ihre gemeinnützige und zusätzliche Arbeit verrichtet hatte, meldete sich der Landkreis mit einem mahnenden Brief bei ihr, dergestalt, dass sie ja schon viel zu lange Sozialhilfe beziehe und nunmehr aufgerufen werde, sich um eine Stelle zu bemühen, andernfalls ihr die Unterstützung gekürzt oder gar gestrichen werde. Sie habe sich umgehend arbeitslos und arbeitssuchend zu melden.

Ja, war sie denn nicht arbeitslos und arbeitssuchend gemeldet? Erschrocken wandte sich die junge Frau ans Arbeitsamt, und tatsächlich stellte sich, auch zum Erstaunen der Sachbearbeiterin, heraus, dass hinter ihrem Namen der Vermerk „für Vermittlung gesperrt“ eingetragen war. „Das muss ein Irrtum sein“, sagte die Sachbearbeiterin, die nicht wusste, dass Bürgermeister und Sozialamtsleiter und der Leiter des Arbeitsamtes diesen Vermerk beschlossen hatten, um der Stadt die Einrichtung einer festen Stelle zu ersparen.

Wenig später erhielt die junge Frau die offizielle Aufforderung, beim DGB an einer „Maßnahme zur Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt“ teilzunehmen. In Anbetracht ihrer zukunftslosen Lage beschloss sie, dieser Aufforderung Folge zu leisten, und mit der entsprechenden Bestätigung in der Tasche informierte sie den Schuldirektor, dass sie vom nächsten Monat an nicht mehr für die Vorschulkinder zur Verfügung stünde.

Der Schuldirektor erbleichte. „Unmöglich!“, sagte er. „Wir brauchen Sie. Wir haben den Eltern die feste Zusage gegeben, dass die Kinder betreut werden, sogar schon für das nächste Jahr im Voraus.“ Die junge Frau erwiderte, das täte ihr zwar Leid, aber erstens sei sie zu dieser Maßnahme aufgefordert worden, und zweitens habe sie sich nun mal in aller Freiheit so entschieden.

Drei Tage später wurde ihr vom städtischen Arbeitsamt mitgeteilt, dass „die Maßnahme zur Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt“ für sie gestrichen worden sei und sie weiterhin für die Schule zu arbeiten habe. „Sie können sich gar nicht arbeitslos melden“, erklärte der Leiter des Arbeitsamtes. „Denn Sie arbeiten ja, nicht wahr? Und außerdem“, er setzte sich vertraulich auf seine Schreibtischkante, „würden Sie sowieso keine Arbeit finden. Seien Sie froh, dass Sie nicht Unkraut rupfen müssen im Park!“

In dieser Situation näherte sich ein Retter in Gestalt eines Anwaltes, den aufzusuchen die Freundin der jungen Frau endlich geraten hatte. So stellte sich nach einem monatelang sich hinziehenden Briefwechsel mit Stadt und Gericht heraus, dass ein nachträglich vom Sozialamt ausgefertigter Heranziehungsbescheid zur gemeinnützigen und zusätzlichen Arbeit keine Gültigkeit haben könne, weil es sich bei besagter Arbeit nicht um etwas Gemeinnützig-Zusätzliches handele, sondern um dringend von der Stadt benötigte Arbeitsstunden, für die eine Stelle nach BAT einzurichten mit der Heranziehung der jungen Frau umgangen worden sei.

Ein Beschluss des zuständigen Amtsgerichtes legte der Stadt dringend nahe, der jungen Frau umgehend einen rückwirkend gültigen Arbeitsvertrag mit mindestens einem Jahr zukünftiger Gültigkeit anzubieten, damit ihre Sozialversicherung vorwärts und rückwärts gesichert sei. Da war die junge Frau sehr froh, weil sie nun keine Sozialhilfeempfängerin mehr war und es auch, wie sie annahm, in Zukunft nicht mehr sein würde, weil Teilzeitkräfte nämlich bevorzugt berücksichtigt werden müssen bei der Ausschreibung neuer Stellen.

Aber bald begriff die junge Frau: Ihr Vertrag war nur für drei Monate rückdatiert und dabei sorgfältig so formuliert, dass daraus keinerlei Anspruch auf eine mögliche Weiterbeschäftigung abgeleitet werden konnte. „Nun ja“, hieß es in einem weiteren Gespräch mit den Stadtoberen, „Sie müssen begreifen, dass Sie eigentlich keiner wirklich braucht, noch jemand wirklich haben will. Mit Ihnen kann man nicht gut zusammenarbeiten. Sie fahren manchmal heftig auf, wie man hört, und rennen ja auch wegen jeder Kleinigkeit zum Anwalt.“

Da wollte die junge Frau vor Wut alles hinschmeißen und den Vertrag gar nicht unterschreiben und nicht mehr arbeiten. „Drei Jahre lang habe ich für Sozialhilfe gearbeitet, obwohl Sie mich hätten anstellen müssen“, weinte sie. „Das war ein Unrecht! Müsste ich nicht einen Vertrag bekommen, der dieses Unrecht wieder gutmacht?“

Diese Klage kam ihrem Anwalt zu Ohren. „Aber Sie haben ja mich“, sagte er ruhig. „Dieser Vertrag ist weit besser als nichts. Wir beide werden uns immer wieder begegnen, bis alles so ist, wie es sein soll!“ Die junge Frau wischte ihre Tränen ab und fragte: „Warum tun Sie das für mich? Sie verdienen doch fast kein Geld an mir?“ Der Anwalt antwortete: „Ich habe selbst eine Tochter, bei der ich nicht weiß, ob sie mal in eine ähnliche Lage kommt.“ Das hatte der Anwalt geantwortet, und deshalb unterschrieb die junge Frau den mühsam erkämpften Vertrag und tat weiter ihre Arbeit und glaubt einfach mal so daran, dass am Ende alles gut werden wird.

CORNELIA KURTH, geboren 1960, berichtet für das taz.mag regelmäßig aus der südniedersächsischen Provinz.