Beseitigung der Urspur

Der Senat lässt 9.000 Quadratmeter Kaugummi-Mosaik auf dem Pflaster der City mit brachialer Technik zerstören. Für Theodor W. Adorno, Jaques Derrida, Jean-Paul Sartre und Immanuel Kant ist diese Aktion ein Schlag in die Magengrube

Der Wert der raumgreifenden Installation wird konsequent geleugnet

Die Parole hatte die Senatskanzlei ausgegeben. Und die bürgerliche Presse hatte nichts Eiligeres zu tun als sie jubilierend zu übernehmen: „Weg mit dem Kaugummi“, so der Titel der einschlägigen Mitteilung. Von „Kampf“ geht die Rede im Boulevard. Von Kampf und wiedergewonnener Schönheit.

Nur dem kritischen Blick entpuppen sich die angekündigten „Reinigungsarbeiten in der City“ als populistisches Schüren vonRessentiments: Nicht auszuschließen ist ein antiamerikanischer Unterton. Mit Sicherheit aber verfolgt Bremen mit der Säuberungsaktion eine antikünstlerische Strategie. Diese gilt einem sich in scheinbar chaotischen Verästelungen formierenden Chewing-gum-Mosaik, das nicht jedem gefallen will. Und doch formal die Kriterien eines Werks erfüllt: Markierung ist es und, obgleich es sich naturhaft gebärdet, nicht Natur, sondern Resultat menschlicher Gestaltung.

Freilich, es ist nicht Werk eines Schöpfers, sondern Werk der Masse. Bereits Adorno hatte im Kaugummi die Signatur der „tragischenVerwobenheit des Individuums mit dem unwahren Ganzen“ erkannt. Was das für das konkrete Bremer Objekt besagt, liegt auf der Hand. In ihm nämlich artikuliert sich stumm ein verweigerter Diskurs – nichts bedeutend an sich, für sich aber alles: Das Knirschen, das Zusammenbeißen der Zähne, der Kloß im Halse ist Form geworden. Wäre dies ein Protest, der sich – in der verächtlichen Geste vorgetragen – gegen das oktroyierte pseudohistorische Granitpflaster wendet?

Zu kurz gedacht: Denn in seiner Verachtung benötigt der sich stetig ausdehnende Teppich dieses doch auch als seine Grundlage. Er hebt sich, sei‘s als die Derridasche Urspur schlechthin, sei‘s als deren Sinnbild, vom Steinquader ab, indem er in ihn überzugehen scheint: Seine Sinnlosigkeit ist seine wahre Provokation.

Der Senat tritt ihr mit der brachialen Gewalt innovativer Technik entgegen. Fasziniert starren Reporter der lokalen Medien in zischenden Dampf, lassen sich fesseln von der erstmals in Bremen eingesetzten Apparatur. Folgerichtig treten in ihren Berichten Funktionsdaten an die Stelle relevanter Information: Mit sechs bar Druck tritt der auf 160 Grad Celsius erhitzte Lösungs-Dampf aus einer Düse, um die sich eine Drahtbürste dreht.

9.000 Quadratmeter Innenstadt sollen auf diese Weise bis zum 10. Oktober „kaugummifrei“ sein. Der Wert der raumgreifenden Installation wird konsequent geleugnet. Christine Wischer, als Umweltsenatorin treibende Kraft hinter der Attacke, will das Werk lediglich als Produkt „unachtsamer oder gleichgültiger Zeitgenossen“ verstanden wissen. Doch die Tatsachen stehen dieser Deutung entgegen. Denn empirisch ist längst erwiesen, dass Kaugummikauen Konzentrationsfähigkeit, Gedächtnisleistung und Intelligenz deutlich steigert.

Nicht minder verräterisch die zur Legitimation der Maßnahme errichtete Fassade aus Scheinargumenten. Zugrunde liegen wohlbekannte Codes des Widerwillens. So wird werden die Elemente der stadtgreifenden Installation konsequent als „klebrigen Rückstände“ bezeichnet. Das Klebrige ist spätestens seit Sartre Inbegriff des Ekelhaften. Ein, Kant zufolge, Zuviel des Realen, welches das konstituierende „Als ob“ der Kunst gefährde.

Gegen dieses ist jedes Mittel willkommen. Und so wird die – laut Wischer – „exemplarische Aktion“ im Stile einer kultischen Reinigung inszeniert: „Drei Tage lang“, so steht es geschrieben, schrubbe „ein besonderes Fahrzeug“ die Fläche. Wenn das nicht der Messias lenkt.

Andere Töne hat die Klaviatur der Trivialästhetik noch nie hervorgebracht: Der schiere Kitsch, das Kennzeichen des Populismus, delektiert sich am Säuberlichen, um das Reale aus dem Blickfeld zu drängen. Doch dieses Zwiel wird er nie erreichen: Die Reinigung der Stadt vermag diese nicht zum Ort der Reinigung umzulügen. Bremen-City ist weder Puppenstube noch Museum. Erneut wird die Peripherie als marginale Materie ins Zentrum zurückkehren.

„Dass die Beseitigung“, sagt Senatorin Wischer, „von der Allgemeinheit getragen werden muss, ist nur schwer zu ertragen.“ Recht hat sie.

Luis Meister