Die Narben auf den Gesichtern

Der spanische Schriftsteller Javier Cercas bricht ein Tabu: In seinem Roman „Soldaten von Salamis“ stellt er die Geschichte des Bürgerkriegs und seiner Nachwirkungen auch aus der Sicht eines Falangisten dar

Manchmal schreibt das Leben selbst die unglaublichsten Geschichten. Zum Beispiel die von dem Mann, der seine eigene Erschießung überlebte. Gemeinsam mit etwa 50 weiteren Gefangenen wird er in den letzten Tagen des Spanischen Bürgerkriegs, im Januar 1939, auf eine Lichtung im Wald gebracht. Als die Soldaten das Feuer eröffnen, flieht der Mann.

Er versucht, sich vor seinen Verfolgern zu verstecken, doch als ein Soldat ihn entdeckt, geschieht etwas Unerwartetes: Statt den flüchtigen Feind zu erschießen, sieht der Soldat ihm in die Augen, ruft seinen Kameraden zu „Hier ist keiner!“, dreht sich um und geht fort.

Der Überlebende war Rafael Sánchez Mazas, Schriftsteller, erster Ideologe und Propagandist der spanischen Falange. Seine Geschichte von der Flucht im Wald, die er in seinem Leben so oft erzählte, dass sie schließlich zur Legende wurde, hat der spanische Schriftsteller Javier Cercas zu einem Roman – oder besser gesagt zu einer „Erzählung nach der Wirklichkeit“ – inspiriert: „Soldaten von Salamis“. In dem Buch stellt er seinen Mutmaßungen über den Falange-Gründer die exemplarische Lebensgeschichte eines Soldaten gegenüber, der auf Seiten der Republikaner kämpfte und verlor, anschließend nach Frankreich floh, sich dort der Fremdenlegion anschloss, um endlich nach sieben Jahren Krieg und Kampf an Fronten in Europa und Afrika als Befreier in Paris einzumarschieren. Dieser Veteran nun, deutet Cercas an, könnte der Soldat gewesen sein, der Sánchez Mazas das Leben schenkte.

Diese beiden Lebensgeschichten hat der spanische Autor zu einem raffiniert konstruierten Roman verwoben, in dem ein Ich-Erzähler, der zur Verwirrung des Lesers ebenfalls Javier Cercas heißt, die Entstehungsgeschichte des Buchs schildert: Wie er beginnt, zu Sanchez Mazas und dem Bürgerkrieg zu recherchieren und wie er fasziniert den Berichten der Veteranen lauscht, die über Zeiten sprechen, in denen man sich entscheiden musste, ob man ein Held war oder ein Feigling.

Javier Cercas selbst, 1962 geboren, war 13, als der Diktator starb. Er ist in einer Zeit aufgewachsen, in der die Marken die Ideologien ersetzt haben, und lebt in einem „zivilisierten Land“, in dem man – wie eine seiner Romanfiguren sagt – „es nicht nötig hat, seine Zeit mit Politik zu verschwenden“. Umso größer ist die Faszination für den republikanischen Soldaten, der für seine Ideale das Leben riskierte.

Sánchez Mazas hingegen hat – so Cercas – das Leben eines Feiglings geführt. Im Bürgerkrieg hat er nicht mitgekämpft. Weil er seine eigene Exekution überlebte, blieb es dem Chefideologen der Falange nicht erspart, den schalen Triumph seines Sieges zu kosten. Für die „billige Mittelmäßigkeit“ des Regimes aus „bauernschlauen Tölpeln und Pfaffendienern“, das der siegreiche General Francisco Franco nach dem Bürgerkrieg etablierte, hatte der Falangist nur Verachtung übrig. Trotzdem sang er öffentlich die „beschämendsten Lobeshymnen auf den Tyrannen“. Franco ernannte den einzigen überlebenden Gründer der Falange zwar zum Minister „ohne Geschäftsbereich“. (Leider ist Willi Zurbrüggen in seiner sonst so überzeugenden Übersetzung hier ein Fehler unterlaufen – das Wort „Portefeuille“ ist doch eher von der Börse bekannt, auch wenn es auf den ersten Blick der verwendeten spanischen Formulierung gleicht). Doch die Niederungen der Politik langweilten den Schöngeist. Sánchez Mazas lebte lieber von seinem Millionenerbe und schrieb Essays, Erzählungen, Theaterstücke und Artikel, besuchte literarische Zirkel und widmete sich seinen Hobbys, der Botanik, Magie und Astrologie.

Ganz anders das Leben des Verlierers, des unbekannten, vergessenen Soldaten, der bei Cercas Namen und Gesicht erhält: „Eine Narbe zog sich von seiner Schläfe über Wange und Kinn den Hals hinunter und verlor sich in dem Gestrüpp der Haare, das aus einem grauen Flanellhemd quoll.“ Antoni Miralles heißt der Kriegsveteran, doch kaum benannt wird er gleich wieder anonymisiert: „Nennen Sie mich Miralles, alle Welt nennt mich Miralles.“ Allein, von der Welt vergessen, verbringt er nach dem Tod seiner Frau und seiner Tochter die letzten Jahre seines Lebens in einem tristen Altersheim bei Dijon.

Der linke Autor Cercas, der versucht, die Motive des falangistischen Propagandisten zu verstehen, bricht ein Tabu. Lange genug war es in Spanien üblich, die Geschichte nur aus der Sicht der einen oder der anderen Seite darzustellen.

Mit seinem Romantitel stellt sich Cercas in die Tradition von Aischylos, der die Schlacht von Salamis im fünften Jahrhundert vor Christus literarisch verarbeitete. Zur Verblüffung seines damaligen Publikums stellte der griechische Tragödiendichter in dem acht Jahre nach der Schlacht aufgeführten Drama „Die Perser“ die einstigen Feinde, die überraschend gegen die Griechen verloren hatten, menschlich dar. Und wenn Cercas Sánchez Mazas auch als wenig sympathischen Menschen zeichnet, so ermöglicht er es doch, mit ihm zu fühlen.

Bleibt ein blinder Fleck, der in dem sonst so nuancierten und differenzierten Buch umso störender wirkt: Cercas erzählt eine Geschichte von Vätern und Söhnen. Frauen und Töchter haben in dieser Welt der heroischen Sehnsüchte und müden Krieger nichts verloren und tauchen daher nur als Karikaturen auf. Frau und Tochter von Miralles sind gestorben. Der fiktive Javier Cercas trauert um seinen toten Vater, eine Mutter wird nicht einmal erwähnt. Seine Freundin Conchi wird als vulgäre Ignorantin charakterisiert – gut genug, den depressiven Ich-Erzähler aufzumuntern, ihm das Essen zu kochen oder bei der Recherche zu helfen, aber bei den wirklich spannenden Männergesprächen ist sie nie dabei. It’s a man’s world …     DIEMUT ROETHER

Javier Cercas: „Soldaten von Salamis“. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Berlin Verlag, Berlin 2002. 224 S., 18 €