So sieht das neue Europa aus

Polen

Jerzy Nowak flucht. „Was ist das für ein Europa, wenn ich nicht mal Pilze sammeln darf?“ Der Landwirt aus dem polnischen Zary ging kürzlich zum Pilzesammeln in den Spreewald. Dreißig Kilo brachten die Kleinbauern zusammen. Doch bei der Rückreise war am Schlagbaum Schluss. Die deutschen Grenzer nahmen die Pilz-„Beute“ wieder ab. So seien eben die Vorschriften. „Pilze dürfen aus der EU nur mit einem Sanitätszeugnis ausgeführt werden“, bekam Bauer Nowak zu hören, „noch seid ihr nicht dabei.“

Das hören die Polen immer wieder; und werden von der EU vertröstet. Freizügigkeit bei der Arbeitsaufnahme gibt es erst ab 2007, die Subventionen für die Landwirtschaft mit drei Millionen Beschäftigten fallen geringer aus als erhofft. Und auch sonst ist das Leben für die 38,6 Millionen Polen mühsam. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 13,6 Prozent und die Lebensmittelpreise klettern auf EU-Niveau. HOF

Ungarn

In der „lustigsten Baracke des Ostblocks“ begannen die Wirtschaftsreformen schon vor 30 Jahren. Und so schloss Ungarn als eines der ersten postkommunistischen Länder seine Privatisierung ab. Unangefochten hält es den Spitzenplatz bei den Auslandsinvestitionen und besitzt wohl auch die besten und – pro Kopf der Bevölkerung – meisten EU-Experten im Ex-Ostblock überhaupt.

Das Land mit seinen 10,2 Millionen Einwohnern sieht sich praktisch bereits als Teil der EU. Nun gilt es nur noch, der Mitgliedsfähigkeit den letzten Schliff zu geben. Den großen Rest – wie den Abbau des ökonomischen Gefälles zwischen Ost- und Westungarn, die Verbesserung der Lage der Roma oder ein umweltfreundlicheres Wirtschaften – wird Ungarn in der EU vollenden. Und dabei – so ungarische Experten – könnte es Länder wie Portugal und Griechenland binnen eines Jahrzehnts ein- oder gar überholen. KV

Tschechien

Eigentlich hat Pavel Telička sich gut unter Kontrolle. Nur wenn Journalisten einmal mehr nach den Beneš-Dekreten fragen, kann es passieren, dass Prags EU-Chefunterhändler für einen kurzen Augenblick die Contenance verliert. Beneš-Dekrete? „Sie sprechen wohl von den Dekreten, die der Staatspräsident der Tschechoslowakei nach dem Krieg erlassen hat?“ Nein, die seien bei den Gesprächen in Berlin mit keinem Wort erwähnt worden. Viel größere Sorgen bereitet Telička, dass sein 10-Millionen-Einwohner-Land angesichts der bereits erreichten Wirtschaftskraft 2004 EU-Nettozahler sein könnte. „Dann zahlen wir den Rabatt mit, den Margret Thatcher einst ausgehandelt hat.“

Sollte Brüssel hier keine Lösung finden, dürfte die Zustimmung zur EU, die bei 42 Prozent liegt, sinken. Ein Scheitern des Beitrittsreferendums schließt Telička jedoch aus. Er ist sich sicher, dass er erst am Beginn seiner EU-Karriere steht. HER

Slowakei

Die Slowakei ist das Überraschungsland unter allen EU-Kandidaten. Das Fünf-Millionen-Einwohner-Land war wegen der autoritären Amtsführung von Expremier Vladimír Mečiar lange Zeit vom EU-Integrationsprozess ausgeschlossen und wurde erst im Frühsommer 2000 – zwei Jahre später als seine Nachbarländer Polen, Tschechien und Ungarn – zu EU-Aufnahmeverhandlungen eingeladen.

Seitdem bewältigt das Land die Abarbeitung der Verhandlungskapitel in Rekordzeit. Auch die Zustimmung der Bevölkerung zum EU-Beitritt ist mit 80 Prozent die höchste unter allen Kandidatenländern. Und so geben sich die slowakischen EU-Verhandlungsführer überaus selbstbewusst: Ihr Land sei ab 2004 reif für die EU, Bratislava erreiche schon heute 98 Prozent des durchschnittlichen EU-Bruttoinlandsprodukts. Das ganze Land dürfte aber wohl 20 Jahre brauchen, bis es auch nur bei 75 Prozent dieses BIPs liegt. KV

Litauen

Die Zeiten, in denen Litauen als politisch nicht reif für die EU galt, weil die alte KP-Garde sich in die staatliche Unabhängigkeit hinübergerettet hatte, sind vorbei. Das mit 3,7 Millionen Einwohnern größte baltische Land mag den Privatisierungskurs am langsamsten angegangen sein und hatte bis zur russischen Finanzkrise 98 noch die dichtesten Handelsverbindungen gen Osten. Doch zuletzt hielt man beim Anpassungstempo an die EU Schritt mit den Nachbarn. Das Ergebnis: Mit über 16 Prozent 3 bis 4 Prozent mehr Arbeitslose als in Lettland und Estland.

Bei einem hohen Anteil von in der Landwirtschaft Beschäftigten wird es für Litauen wichtig sein, wie Brüssel die zukünftige Agrarpolitik gestaltet. Und dann ist da noch das Problem Kaliningrad: Ein Transitkorridor zwischen zwei Teilen Russlands auf Kosten der eigenen Souveränität will man nicht sein. WOLFF

Lettland

Mitte der 90er schien Lettland beim Run auf Brüssel auf der Strecke zu bleiben. Nordeuropäische Investoren zogen Estland, mitteleuropäische Litauen vor. Zudem kritisierte Brüssel die Korruption, das schlecht funktionierende Steuersystem, den schwerfälligen Verwaltungsapparat. Demgegenüber konnte das 2,4-Millionen-Einwohner-Land mit der prozentual höchsten wirtschaftlichen Zuwachsrate in ganz Europa glänzen. Was nichts daran ändert, dass Lettland beim BIP mit einem Drittel des EU-Durchschnitts ganz am Ende aller Beitrittsländer liegt.

Dass Lettland nicht wie Rumänien und Bulgarien bis 2007 auf den EU-Beitritt warten muss, hat außenpolitische Gründe: Die baltischen Staaten sollen gemeinsam aufgenommen werden.Was die Diskriminierung der russischen Minderheit angeht, hat die EU ihre Kritik entschärft. Wohl um der EU-Stimmung nach oben zu verhelfen, die die niedrigste im Baltikum ist. RW

Estland

Estland besteht eigentlich aus zwei Ländern. Tallinn, das moderne westliche Schaufenster, der IT-Weltmeister, die Stadt des Eurovisions-Schlagerfestivals. Und das flache Land, auf dem nicht nur die Landwirtschaft auf der Strecke geblieben ist. In keinem anderen Land ist die Kluft zwischen Arm und Reich so tief wie hier.

Das kleinste der baltischen Länder ist der Primus bei der Anpassung an EU-Normen. In Rekordzeit wurde das Land nach der Unabhängigkeit auf Marktwirtschaftskurs gebracht. Finnische und schwedische Unternehmen entdeckten schnell die Möglichkeiten, welche die billigen Arbeitskräfte und die geografische Nähe bedeuten. Mehr als zwei Drittel aller Direktinvestitionen kommen aus den beiden Nachbarländern. Man produziert aber nicht mehr nur billige Massenware. Ein Drittel der Exporte Estlands in die EU besteht bereits aus Komponenten für technische Produkte. RW

Slowenien

Mit Slowenien kommt ein Staat in die EU, der nach seiner Unabhängigkeit von Jugoslawien 1991 eigenwillige Wege gegangen ist. Das Land mit der Größe Hessens und nur zwei Millionen Einwohnern ist nämlich keineswegs neoliberalen Ideen für den Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus gefolgt. Die Staatsbetriebe wurden langsam und behutsam privatisiert, und zwar so, dass die Belegschaften mit ihren Aktienanteilen nach wie vor entscheidend mitbestimmen.

Wirtschaftszweige wie die Haushaltsgeräteherstellung, die chemische Produktion, Maschinenbau, Agrarindustrie und der Tourismus florieren. Schon im alten Jugoslawien galten die Slowenen als besonders arbeitsam und zuverlässig. Slowenien produzierte mit 7 Prozent der Bevölkerung mehr als 20 Prozent des BSP Jugoslawiens. Das Land wird als einer der wenigen EU-Newcomer zu den Nettozahlern der künftigen Gemeinschaft gehören. RATH

Zypern

Die Regierung in Nikosia ist am Ziel ihrer Wünsche. Die Inselrepublik, deren Souveränität sich faktisch auf den Süden beschränkt, kommt auch im geteilten Zustand in die EU. So wurde es schon 1999 auf dem EU-Gipfel von Helsinki versprochen. Laut Wirtschaftsdaten sind die 620.000 griechischen Zyprioten längst beitrittsfähig. Mit einem BIP, das bei 80 Prozent des EU-Durchschnitts liegt, stehen sie besser da als Portugal. In der EU-Zugehörigkeit sehen die Inselgriechen nicht zuletzt eine Versicherungspolice gegen türkische Expansionspläne.

Aber auch die meisten türkischen Zyprioten wollen der EU beitreten. Dass sie es nicht können, liegt an zwei Faktoren: an der Unversöhnlichkeit ihres Führers Denktasch, der seinen Separatstaat erhalten will, und an der Kurzsichtigkeit Ankaras. Dort hat man nie verstanden, dass die EU-Aufnahme der türkischen Zyprioten der eigenen EU-Perspektive nur dienlich wäre. NK

Malta

Malta ist das kleinste EU-Beitrittsland. Die Mittelmeerinsel zählt mit 400.000 Einwohnern in etwa so viele wie Luxemburg. Die einst britische Kolonie ist zudem neben dem Vatikan der wohl katholischste Staat Europas: Auf Malta wird weder geschieden noch abgetrieben, aber per Verfassung an die katholische Kirche geglaubt. Diese unterstützt den Pro-EU-Kurs der regierenden Partei der Nationalisten unter Premier Adami.

Wirtschaftlich – nach Schätzungen der EU kann Malta 2002 mit einem Wachstum von 3,9 Prozent rechnen – steht dem Beitritt nichts entgegen. Doch nur die Hälfte der Bevölkerung will Umfragen zufolge beim Referendum im Frühjahr 2003 mit Ja stimmen. Viele Malteser fürchten, EU-Ausländer würden ihnen Arbeit und Boden wegnehmen und ihnen den laxen Umgang mit dem Umweltschutz madig machen. HH