Die „Königsfrage“ von 1950

DASS der Mord an Pim Fortuyn im Mai dieses Jahres die niederländische Bevölkerung tief schockiert hat, ist verständlich: der letzte politische Mord in den Niederlanden ging auf das Jahr 1672 zurück, als die Brüder de Witt von einer aufgebrachten Menschenmenge gelyncht worden waren. Belgien hat vor etwas mehr als zehn Jahren eine ähnliche Erschütterung erlebt, als der ehemalige sozialistische Minister André Cools im Juli 1991 von einem Killerkommando erschossen wurde; die Auftraggeber sind bis heute nicht gefunden.

Dabei war das kleine Nachbarland der batavischen Monarchie um die Mitte des Jahrhunderts schon einmal Schauplatz eines politischen Mordes gewesen, verübt am 18. August 1950 an Julien Lahaut, dem Ehrenpräsidenten der belgischen Kommunistischen Partei, auf der Schwelle seines Hauses in Ougrée bei Lüttich. Sieben Tage vorher hatte Lahaut angeblich während der feierlichen Vereidigung von König Baudouin von seinem Platz im Parlament ein sonores „Vive la Republique!“ in den Saal gerufen. Die Historiker sind sich so gut wie sicher: Nicht Lahaut, sondern sein Parteigenosse Henri Glineur hat die Parlamentssitzung gestört. Mit Lahaut wollten die Mörder weniger den Republikaner als den Kommunisten treffen.

Die belgischen Geschichtsbücher präsentieren die ersten Monate des Jahres 1950 als die Phase der „Königsfrage“. Selten war das Land so nah am Rande eines Bürgerkriegs. Der belgische König Leopold III. hatte sich während des Zweiten Weltkriegs in seinem Palast in Laeken aufgehalten, unbeirrt von der Nazi-Besatzung und dem Bruch mit seinen Ministern, die Ende Oktober 1940 nach London ins Exil flohen. Bei der Befreiung im September 1944 war er allerdings außer Landes: Im Juni hatten die Deutschen ihn ins Reich deportiert, und erst im Mai 1945, nach der Kapitulation, wurde er von den Amerikanern aus seiner Gefangenschaft in Strobl bei Salzburg befreit.

Die belgische Regierung schwankte, ob sie ihn auf den Thron zurückkehren lassen sollte oder nicht. Die Linke und die Liberalen forderten einfach die Abdankung Leopolds III., der sich ihrer Ansicht nach während der Besatzung nicht klar genug verhalten hatte. Sein Hang zur autoritären Herrschaft war seit langem bekannt. Hatte er nicht in einem schriftlichen Dokument, das 1949 veröffentlicht wurde, aber vom Januar 1944 stammt, „Wiedergutmachung“ von seinen Kritikern verlangt, denen seine Entscheidung, im besetzten Belgien zu bleiben, nicht passte? Hatte er nicht im Voraus angekündigt, bei seiner Rückkehr würde er sie niemals mehr an der Macht beteiligen? Auch seine zweite Ehe, die er im Dezember 1941 – nach dem Tod von Königin Astrid im Jahr 1934 – mit Liliane Baels, der Tochter eines den flämischen Nationalisten nahe stehenden Politikers, schloss, wurde ihm vorgeworfen.

Nur die Christsozialen setzten sich damals vorbehaltlos für die Rückkehr des Königs ein, aber sie hatten keine Mehrheit im Parlament. Die Monarchie als solche wurde – außer von den Kommunisten natürlich – von niemandem in Frage gestellt. In dem Konflikt ging es nur um die Person Leopolds III. In seiner Abwesenheit war sein jüngerer Bruder Charles zum Regenten ernannt worden: Das Parlament hatte den König, der sich in den Händen des Feindes befand, im September 1944 für „regierungsunfähig“ erklärt. Im Juli 1945 wurde auf Initiative der linken Parteien gesetzlich verfügt, dass die Kammern nur in einer außerordentlichen Sitzung das Ende der Regierungsunfähigkeit beschließen durften. So konnte Leopold, auch nachdem die Amerikaner ihn aus der Gefangenschaft befreit hatten, seine Amtsgeschäfte ohne die Zustimmung des Parlaments nicht wieder aufnehmen.

Die Wahlen von 1949 brachten eine Regierung aus Christsozialen und Liberalen an die Macht, die eine „Volksbefragung“ über die Rückkehr des Königs beschloss. Am 12. März 1950 beantworteten 57,68 Prozent der Stimmberechtigten die Frage „Sind Sie dafür, dass König Leopold III. seine verfassungsgemäßen Ämter wieder ausübt?“ mit „Ja“.

Die umstrittene Rückkehr Leopolds III.

DER Aufruf, der an die Bevölkerung ergangen war, hatte jedem Missverständnis vorgebeugt: „Bei der Frage geht es weder um das Prinzip der konstitutionellen Monarchie noch um die Beschaffenheit der Königsämter noch um die Kontinuität der Dynastie noch darum, wie sich die Armee 1940 verhalten hat.“ Die 42,32 Prozent, die gegen die Rückkehr des Königs stimmten, waren also nicht alle Republikaner. Dennoch ging damit ein großer Bruch durch das Land – zumal die Ergebnisse eine Zäsur zwischen den Regionen erkennen ließen: 72,2 Prozent Jastimmen in Flandern, 48,16 Prozent im Wahlbezirk von Brüssel und 42 Prozent in Wallonien.

Die Demarkationslinie zwischen Leopoldisten und Antileopoldisten war jedoch nicht rein sprachlich bedingt, sondern auch „weltanschaulich“, wie man in Belgien sagt. Neben den flämischen Provinzen, die sich ausnahmslos für die Rückkehr des Königs ausgesprochen haben, waren im Lager der Befürworter die wallonischen Provinzen Luxemburg und Namur vertreten. Die in diesen beiden noch recht ländlichen Teilen Walloniens überwiegenden Katholiken hielten dem König die Treue. Im Übrigen wurde die Rückkehr Leopolds in den großen Industriezentren – einschließlich jener in Flandern – stärker befürwortet als in den Agrargebieten. Kurz, es gab verschiedene Scheidelinien, die sich durch die Gesellschaft zogen – eine Situation, die jederzeit zu explodieren drohte.

Der liberale Partner der Regierungskoalition verweigerte indessen seine Zustimmung zur Einberufung der Parlamentssitzung, die Leopolds Rückkehr auf den Thron vorausgehen musste. Schließlich traten die Liberalen aus der Regierung aus. Der Himmel verdüsterte sich, zumal die Volksbefragung von den Wallonen als politischer Sieg der Flamen empfunden wurde, der, sollte Leopold seine Amtsgeschäfte wieder aufnehmen, die Bindung Walloniens an den belgischen Staat in Frage stellte.

Ende März 1950 fand auf Initiative der sozialistischen Gewerkschaft in den wallonischen Provinzen ein Generalstreik statt. Auch in der christlichen Arbeiterbewegung Walloniens wurden Stimmen gegen die „vorbehaltlose“ Rückkehr des Königs laut. Angesichts der verfahrenen Situation löste der Prinzregent im April das Parlament auf. Aus den Neuwahlen am 4. Juni 1950 ging die christlich-soziale Partei mit einer absoluten Mehrheit hervor, und zwar sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat. Unverzüglich wurde eine die Regierung gebildet, und schon am 20. Juli erklärte das Parlament die „Regierungsunfähigkeit“ Leo polds III. für beendet.

Danach kam es bald zu Unruhen. Erst waren es Demonstrationen zur Unterstützung des Prinzregenten, dann folgte ein von Streiks begleiteter wallonischer „Protesttag“. Die Atmosphäre lud sich auf. Als das Flugzeug, das Leopold III. nach Belgien zurückbrachte, am Morgen des 22. Juli 1950 in Evere bei Brüssel landete, schützten tausende Gendarmen den Weg zum Königspalast. Für den 26. Juli wurde zu einem neuen Generalstreik aufgerufen, dem mehrere Bombenattentate auf Eisenbahnstrecken vorausgingen. Die massenhafte Streikbeteiligung legte das ganze Land lahm. Sogar in Flandern standen die Maschinen still. Am 30. Juli kamen in Grâce-Berleur bei Lüttich (Wallonien) vier Demonstranten durch Polizeigewalt zu Tode. Ihr Begräbnis geriet zu einer Versammlung von fast 100 000 Menschen.

Ende Juli beschloss die Regierung den Einsatz der Armee, um die Aufrechterhaltung der Ordnung zu gewährleisten und nötigenfalls weitere Verstärkung anfordern zu können. Die Zwischenfälle häuften sich, es kam zu Sabotage und Sprengstoffattentaten. Es herrschte Aufruhrstimmung. Manche sozialistischen Politiker dachten ernsthaft daran, die „Generalstände von Wallonien“ einzuberufen und eine provisorische wallonische Regierung zu bilden. Schließlich warf die amtierende Regierung ihre Demission in die Waagschale und forderte Leopold III. auf, sich zu Gunsten seines ältesten, gerade achtzehnjährigen Sohnes, Prinz Baudouin, vom Königsamt zurückzuziehen.

Unter diesen Umständen sah der König „keine andere Möglichkeit, als sich zu beugen“. Er kündigte an, er werde Baudouin die Königsmacht übertragen und abdanken, sobald sein Sohn die Volljährigkeit erreicht habe. Diese von den drei großen Parteien der damaligen Zeit (Christsozialen, Sozialisten und Liberalen) ausgehandelte Kompromisslösung genoss nicht die Unterstützung der Ultraroyalisten, die den Ausschluss der „Umfaller“ aus der Christsozialen Partei verlangten. Sechsundzwanzig christsoziale Abgeordnete stimmten übrigens im Parlament gegen das Gesetz zur Übertragung der Königsmacht, während die Kommunisten sich enthielten.

Was dann folgte, könnte einem Filmdrehbuch entnommen sein. Am 11. August 1950 legte Baudouin vor den Kammern seinen Eid ab. Die Wochenschau von damals zeigt ihn, schmächtig und bewegt, gerade im Begriff, den Treueid auf die Verfassung zu sprechen. Noch ehe er den Mund auftut, ertönt aus der Ecke der Kommunisten der Schrei „Vive la République!“, der Julien Lahaut zum Verhängnis wird. Lahaut stirbt am 18. August, ermordet von radikalen Royalisten, deren Identität bis heute ein wohl gehütetes Geheimnis ist.

Am 16. Juli 1951 dankte Leopold III. ab. Tags darauf wurde Baudoin mit 20 Jahren der fünfte König der Belgier. Seine Herrschaft war eine der längsten in der Geschichte Belgiens. Er starb im August 1993 an einem Herzinfarkt. Leopold dagegen hat die letzten Jahre bis zu seinem Tod im September 1983 der ethnologischen Forschung gewidmet.

Die fast Shakespeare‘sche Auflösung hatte paradoxe Konsequenzen. Zum einen nahm die „Königsfrage“ erheblichen Einfluss auf die politischen Verhältnisse. Abgesehen von einigen Provinzen im Süden des Landes, machte das Referendum vom März 1950 die Differenzen zwischen Flamen und Wallonen so sichtbar wie keine Abstimmung je zuvor. Nur konnten diejenigen, die erst die Wahlschlacht und dann die Volksbefragung gewonnen hatten, sich in der Sache nicht durchsetzen: Leopold III. wurde zur Abdankung gezwungen. Die beißende Erinnerung daran hat die öffentliche Meinung bei den Flamen und bei den Katholiken – die wenige Jahre später im Streit mit dem sozialistischen Bildungsminister um den katholischen Schulunterricht Rache zu üben versuchten – sicher nachhaltig beeinflusst. Die Königsfrage war auch der Anfang einer Radikalisierung der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung in Wallonien, deren Wirkungen beim „Jahrhundertstreik“ im Winter 1960/1961 spürbar wurden. Schließlich hat sie eine Strategie der Zugeständnisse hervorgebracht, die in den folgenden Jahrzehnten zur belgischen Spezialität geworden ist.

Und wie steht es seither um die belgische Monarchie? Sie wurde kaum mehr in Frage gestellt. Gewiss, es gab einige politische Spannungen die Aufgaben des Königs betreffend: Man denke nur an Baudouins umstrittene Rolle bei der Unabhängigkeitserklärung von Belgisch-Kongo, und vor allem an seine Weigerung im April 1990, das Gesetz zur Freigabe der Abtreibung zu unterzeichnen, die dann zur grotesken Episode seiner kurzen „Regierungsunfähigkeit“ führte. Und doch: Nur wenige Politiker bezeichnen sich offen als Republikaner, und die Öffentlichkeit steht mehrheitlich zum Königtum.

So paradox es scheinen mag, der Gegensatz zwischen Royalisten und Republikanern spielt in der belgischen Politik nur eine zweitrangige Rolle. Das war schon 1950 so. Bloß die Kommunisten stellten ihre republikanischen Überzeugungen zur Schau. An der Königsfrage wurden Konflikte deutlich, die sich durch die belgische Nachkriegsgesellschaft zogen, und an ihr zeichneten sich die Schwierigkeiten der kommenden Jahre ab. Über die Person Leopolds III. und das Königsamt hinaus ging es um die Rolle der Kirche und der christlichen Welt, um die demografische Mehrheit der Flamen und das Gewicht der Katholiken im Norden des Landes, um das Gleichgewicht der Mächte in einem komplexen Staatsgebilde, ja um die Identität dieses Staates selbst. So gesehen, hat die Anhänglichkeit der Belgier an ihre Könige wohl mehr mit Zurückhaltung als mit Überzeugung zu tun.

S. G.