Nur eine klägliche Existenz

Peter-Jürgen Boock erinnert sich fantasievoll an die Entführung Schleyers und verheimlicht den Lesern wieder einmal die wichtigsten Fakten

Vor 25 Jahren wurde der Vorsitzende des Bundes Deutscher Arbeitgeber, Hanns-Martin Schleyer, entführt und ermordet. Die Entführung, bei der Schleyers Fahrer und drei Polizeibeamte kaltblütig erschossen wurden, begann am 5. September 1977 und endete nach 43 Tagen am 18. Oktober mit der Ermordung der Geisel. Das „kommando siegfried hausner“ erklärte dazu wie üblich kleingeschrieben und in verlogenem Pathos: „wir haben nach 43 tagen hanns-martin schleyers klägliche und korrupte existenz beendet … für unseren schmerz und unsere wut über die massaker von mogadischu und stammheim ist sein tod bedeutungslos.“ Zwei Tage zuvor hatten sich im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses in Stuttgart-Stammheim die dort einsitzenden Terroristen Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe umgebracht. Die Gefangene Irmgard Möller überlebte den Selbstmordversuch schwer verletzt. Die Verzweiflungstaten, bei deren kriminaltechnischer Aufklärung so schlampig gearbeitet wurde, dass sich das Gerücht von der Ermordung der Gefangenen verbreitete, waren die Reaktion auf eine in Mogadischu gescheiterte Flugzeugentführung, mit der die Gefangenen freigepresst werden sollten. Es war der Anfang vom Ende der Roten Armee Fraktion (RAF), die sich – selbstverblendet und größenwahnsinnig – in eine Scheinwelt geflüchtet hatte. In ihr sah die BRD aus wie ein „faschistischer Staat“ und die Regierung Helmut Schmidts wie ein Verein, der sich von ein paar Desperados erpressen ließ.

Peter-Jürgen Boock war an der Tat beteiligt und gehörte 14 Tage lang zu Schleyers Bewachern, bevor er sich nach Bagdad absetzte. 1980 stieg er endgültig aus, ein Jahr später wurde er verhaftet und verbüßte eine lebenslängliche Strafe, aus der er 1999 entlassen wurde. Was er dabei erlebt und gelernt hat, berichtet Boock leider nicht, sondern beschränkt sich auf eine „dokumentarisch-fiktive Montage“ des Schlüsselereignisses, das direkt in die „bleierne Zeit“ des „deutschen Herbstes“ führte. Boock ist sich dabei bewusst, dass seine „ergänzende Perspektive aus der Innensicht“, rekonstruiert nach 25 Jahren, nur bruchstückhaft und höchst subjektiv sein kann. Weder seine eigenen Sätze noch diejenigen, die er seinen Mittätern und dem Entführungsopfer zum Teil in direkter Rede in den Mund legt, können historische Authentizität beanspruchen.

Insgesamt hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits zeichnet Boock von Schleyer das sehr faire Bild eines Mannes, der sich durch die Gefangenschaft und die entwürdigende Behandlung durch eine Gruppe von Paranoikern nicht in Panik versetzen ließ. Im Gegenteil: Schleyer behauptete sich gefasst und blieb bei den „Verhören“ im angeblichen „Volksgefängnis“ dem intellektuell eher bescheiden ausgestatteten RAF- Personal überlegen. Ein ums andere Mal bewies Schleyer seinen Schergen, dass sie „eigentlich keine Vorstellung davon“ hatten, wie das „viel zitierte andere soziale System aussehen und funktionieren könnte“.

Andererseits kann man einfach nicht überprüfen, ob Boock – der seine Tatbeteiligung neun Jahre lang geleugnet hat – nach bestem Wissen und Gewissen berichtet oder lügt. Seine Sprache jedenfalls verrät eine verheerende Befangenheit in Gedankenwelt und Phraseologie der RAF. Mit keinem Wort kritisiert er den von Anfang an hybriden Anspruch der Gruppe, die sich groteskerweise als „militante Linke“ aufspielte. Boock redet unentwegt von „Aktion“, „Kommandounternehmen“, „Kommandowohnung“ und Kommandomitgliedern“ oder brüstet sich mit seinen technischen Fähigkeiten oder „einer militärischen Option“, die, bei Licht besehen, nur das Niederschießen von Polizisten meint. Boock will auch heute nicht schreiben, wer bei der Entführung die Begleiter Schleyers erschossen und wer den Unternehmer selbst hingerichtet hat. Das ist allerdings in einer Hinsicht unerheblich: Der Beschluss für den Mord fiel einstimmig, und von denen, die dabei mitwirkten, saßen oder sitzen alle im Gefängnis oder kamen im „Krieg“ ums Leben.

Widersprüchlich an Boocks Darstellung ist ihre – obwohl er 25 Jahre Zeit hatte, nachzudenken – vielleicht nur vorgespielte Naivität. So beschreibt Boock gleich am Anfang, auf das Tragen von Skimützen zur Tarnung habe man im „Volksgefängnis“ verzichtet, weil Schleyer die unmaskierten Täter bereits beim Überfall am 5. 9. 1977 erkannt habe. Gleichzeitig soll der Geisel jedoch „eine undurchsichtige Schweißerbrille“ aufgesetzt worden sein, damit Schleyer „später“ die Umgebung und sein Gefängnis nicht identifizieren könne. Eine Geiselnahme mit dem Ziel der Erpressung ohne Maskierung der Täter durchzuführen zeugt entweder von unglaublicher Dummheit, oder Boocks Version ist erneut eine Lüge. Mit anderen Worten: Entweder handelte die angeblich so professionell agierende Gruppe restlos dilettantisch, oder Boock gesteht ein, dass das Todesurteil für die Geisel von Anfang an und unabhängig vom Ausgang der geplanten Freipressung der Häftlinge feststand. Boock dankt dem Spiegel-Chefredakteur und Terrorexperten Stefan Aust für Anregung und Kritik. Sollte diesem Kenner die Ungereimtheit entgangen sein oder wollte er Boock als Bluffer oder Lügner ins offene Messer laufen lassen – sozusagen als Revanche dafür, dass Boock mit seinen Lügen in den 80er-Jahren viele Linke und Liberale dazu brachte, für ihn als Opfer einer vermeintlichen Rachejustiz einzutreten? RUDOLF WALTHER

Peter-Jürgen Boock: „Die Entführung und Ermordung des Hanns-Martin Schleyer. Eine dokumentarische Fiktion“, 204 Seiten, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2002, 19,90 € Der Autor war in den 80er-Jahren Redakteur der Zeitschrift „links“ des Sozialistischen Büros Offenbach. Die Zeitschrift und das Komitee für Grundrechte und Demokratie setzten sich damals – von Peter-Jürgen Boocks Unschuld überzeugt – für eine Neuverhandlung seines Prozesses ein. Boock und andere RAF-Häftlinge erhielten damals „die kritische Solidarität“ der undogmatischen Linken und belogen diese im Gegenzug systematisch.