Über den Atlas zur Globalisierung

„Le Monde diplomatique“ gibt ein großes Kompendium für das 21. Jahrhundert heraus. Erscheinungstag: 20. Februar 2003

von BARBARA BAUER
und MARIE LUISE KNOTT

Die Globalisierung: Sie macht sich die Welt untertan. Immense Waren-, Kapital- und Datenmengen bewegen sich von Kontinent zu Kontinent. Doch hat sich die Vorstellung, mit dem Zusammenwachsen zum „globalen Dorf“ sei auch ein weltweiter Zusammenhalt verbunden, als Illusion erwiesen. Die gesellschaftlichen Ungleichheiten haben sich verstärkt – sowohl zwischen reichen und armen Regionen als auch in den ärmsten Staaten. Eine „gerechtere Weltordnung“ ist nicht in Sicht. Die Folgen: neue Konflikte, klimatische und demografische Umwälzungen, unkontrollierbare Migrationsströme.

Dabei treffen die Folgen der Marktkonzentration immer schmerzlicher auch in westlichen Gesellschaften die Angehörigen der Mittelschicht. Viele Menschen fürchten den sozialen Absturz, ihre Altersvorsorge schmilzt mit dem freien Fall der Aktien weg, in puncto Gesundheitsversorgung bekommen auch vergleichsweise gut abgesicherte Bürger zu spüren, wie demütigend und unzureichend die „Mindestversorgung“ ist.

Eine Bestandsaufnahme des Globalisierungsprozesses ist nötig. Selbst ein Profiteur wie George Soros oder der ehemalige Weltbank-Chefökonom Joseph Stiglitz fordern eine Revision. Für eine internationale politische Willensbildung brauchen die Menschen zunächst Wissen über den Stand der Globalisierung.

Der Atlas: Alle reden von Globalisierung. Im Sozialkundeunterricht lernen Schüler, was die vielen Selbstmorde unter lateinamerikanischen Kaffeebauern mit dem internationalen Preisdruck auf das Allerweltsgetränk zu tun haben. Es gibt zahllose Stellungnahmen, Analysen, Konferenzen und Bücher zum Thema – einen „Atlas der Globalisierung“ aber gibt es nicht. Der Atlas von Le Monde diplomatique, der monatlichen Beilage der taz, betritt somit Neuland. Er wirft einen kritischen Blick auf Schauplätze und Akteure und analysiert das gesamte Spektrum sowie die ökonomischen, sozialen, ökologischen, medialen und rechtlichen Folgen der Globalisierung.

Der Atlas hat zwei Hauptteile: Der erste lenkt den Blick auf die allgemeineren Aspekte der Entwicklung. Hier gibt es beispielsweise unter der Rubrik „Technischer Fortschritt“ eine Karte, die die Dichte von Telefonen und Computern in den Ländern zeigt. Unter der Rubrik „Demokratie und gesellschaftlicher Fortschritt“ wird auf einer Doppelseite das Verhältnis von Alphabetisierung und Kindersterblichkeit im Laufe der vergangenen 30 Jahre dargestellt.

Teil II nimmt Schauplätze und Akteure unter die Lupe, etwa die USA und deren System politischer, militärischer und ökonomischer Kooperationen. Den Gebieten „Naher Osten und Nordafrika“ oder dem asiatischen Raum sind Kapitel gewidmet, ebenso übergeordneten Fragestellungen wie „Ethnien, Sprachräume und Religionsgemeinschaften“.

Der Kartenmacher: Philippe Rekacevicz, seit vielen Jahren für die Karten von Le Monde diplomatique zuständig, war lange Chefkartograf der Vereinten Nationen. Mit Experten aus Wissenschaft und Medien hat er das statistische Material zu den regionalen und globalen Entwicklungen zusammengetragen und systematisch aufgearbeitet. Entstanden ist ein Handbuch von 92 Doppelseiten zu 92 Themen, das mit über 100 Karten und ebenso vielen Grafiken sowie mit informativen und leicht zugänglichen Texten zu jeder Doppelseite das Geschehen anschaulich macht: ein unverzichtbares Standardwerk für alle, die sich ein Urteil bilden wollen, ein Begleiter in die Welt des 21. Jahrhunderts.

Das Kompetenzteam: Le Monde diplomatique hat die Kritik an der Globalisierung durch Hintergrundberichte, Recherchen und Analysen in den vergangenen Jahren maßgeblich geprägt. Seit Ignacio Ramonet Anfang 1998 unter dem Titel „Entwaffnet die Märkte“ zum Protest aufrief, hat die Zeitung ihren journalistischen Schwerpunkt darauf konzentriert, durch Wirtschaftsanalysen, Sozialreportagen und kartografisches Material die Globalisierung als eine politische Richtungsentscheidung darzustellen, die revidiert werden muss. Redakteure von Le Monde diplomatique waren Mitbegründer von Attac in Frankreich. Wer, wenn nicht Le Monde diplomatique, sollte also ein so ehrgeiziges Projekt wie den „Atlas der Globalisierung“ in Angriff nehmen?

Die Verschiebung: Ursprünglich sollte der „Atlas der Globalisierung“ am 15. November 2002 erscheinen. Der Termin musste aber auf den 20. Februar 2003 verschoben werden. Warum? Was für eine Mammutleistung es ist, die aktuellen und verlässlichen Daten über den Status quo der Welt zu sammeln, zu bündeln und anschaulich zu präsentieren – vom Zugang zu Wasser und Nahrung über die Rechte von Schwulen und Lesben bis hin zu den Netzen der internationalen NGOs und den Konsequenzen des WTO-Beitritts für China –, das wurde erst nach und nach in vollem Umfang deutlich. Die zu bewältigende Masse an Daten wurde dabei nicht weniger, sondern immer mehr. Deshalb erscheint die französische Originalausgabe des Atlasses erst Anfang Januar. Somit kann der Atlas erst später als geplant ins Deutsche übersetzt werden. Das tut uns Leid, vor allem, weil wir an den eingehenden Bestellungen merken, wie notwendig ein solches Kompendium gegenwärtig ist. Gut Ding will eben manchmal mehr Weile haben.

Barbara Bauer und Marie Luise Knott gehören zur Redaktion von „Le Monde diplomatique“.