Vordenker des deutschen Großreichs

Der Königsberger Historiker Hans Rothfels wirkte entschieden an der Zerstörung der Weimarer Republik mit. Obwohl sein wissenschaftliches Werk eine Brücke zum Nationalsozialismus schlägt, verteidigen ihn manche seiner Schüler bis heute

von KARL-HEINZ ROTH

Im Verlauf des Jahres 1946 schrieben die nach Westdeutschland geflohenen Mitglieder des Königsberger Historikerkreises zerknirschte Briefe an ihren Mentor Hans Rothfels. Er lehrte zu dieser Zeit in den USA, da er im Sommer 1934 seinen Königsberger Lehrstuhl verloren und kurz vor Kriegsbeginn Europa verlassen hatte. Hatte er also nicht allen Grund, ihnen zu zürnen? Würde er ihnen peinliche Fragen stellen über ihr Verhalten, als er zum Juden stigmatisiert und ausgegrenzt wurde? Oder wegen ihrer Verstrickungen in die Völkermordpolitik in den besetzten Ländern Ostmitteleuropas? Diese Sorgen erwiesen sich als unbegründet. Rothfels war generös. Er stellte sich erneut vor sie – jetzt mit der Autorität eines US-amerikanischen Staatsbürgers.

Sogar die Schuldgefühle teilte er mit ihnen. „War es nicht vielmehr so, dass die Nazis mit diabolischem Geschick in alles hineinschlüpften, was ‚echt‘ war“, schrieb er beispielsweise an Reinhard Wittram, „teils haben ‚wir‘ ihnen dabei geholfen, und ich schließe mich selbst davon nicht aus, um es dann von innen zu exploitieren und explodieren“. Was für ein bemerkenswertes Bekenntnis. Hans Rothfels sah sich aus der amerikanischen Distanz als Impulsgeber. Er hatte es den Nazis ermöglicht, auf seine geschichtspolitischen Doktrinen zurückzugreifen und „echte“ Nationalitätenfragen zur Explosion zu bringen.

In den USA war Hans Rothfels bereits früh scharf kritisiert worden. Der marxistische Historiker Eckart Kehr bezeichnete ihn in Chicago als den ersten deutschen Historiker, der die neo- rankeanische Ideengeschichte der Meinecke-Schule offen mit dem Nationalismus der politischen Rechten verknüpft habe. Er bezog sich dabei auf Rothfels’ Vortrag über die Ostpolitik Bismarcks (1932), in dem er vorschlug, die jungen, von politischen Krisen geschüttelten Nationalstaaten Ostmitteleuropas neu zu ordnen. Rothfels wollte zurück zu einem autoritären und patriarchalischen Regime und strebte speziell die Konservierung einer deutschen baltischen Herrenschicht über diese dortigen Ostvölker an.

Hatte Rothfels 1932 eine faschistische Bresche in die „Zunft“ geschlagen? Kehr sah den entscheidenden sozioökonomischen Fixpunkt von Rothfels’ Paradigmenwechsel deutlich, denn Rothfels votierte seit Beginn der 1930er-Jahre für eine Restauration der patriarchalischen Ständeherrschaft in der ostmitteleuropäischen „Zwischenzone“, was unweigerlich die gewaltsame „Zurückbindung“ der multinational zusammengesetzten arbeitenden Klassen des slawischen Westens in unfreie Arbeitsverhältnisse zur Folge gehabt hätte. Dieser Vorschlag hatte weitreichende Implikationen: Die neuen Unfreien sollten entnationalisiert und in einem multiethnischen Föderationssystem eingefriedet werden, Deutschland als westliche „Kernmacht“ die Herrenschicht stellen.

Eckart Kehrs Befund ist zutreffend. Aber mit Faschismus hatte das begrifflich noch nichts zu tun. Schließlich verstehen wir unter Faschismus mehr als ein Programm zur Revision von Grenzregimes und imperiale Machtentfaltung. Er ist ein Herrschaftsmodell, das auf einen breiten Massenkonsens gründet und auf die diktatorische Umgestaltung des Nationalstaats hinarbeitet. Er soll die Klassenwidersprüche korporatistisch überbrücken und die Nation so expansionsfähig wie möglich machen. Der Faschismus radikalisiert und erweitert die Aggressionsinstrumente der imperialistischen Politik, indem er seine wirtschaftspolitische und militärische Schwäche durch die Ausnutzung von Nationalitätenkonflikten auszugleichen versucht. Zudem zerfiel der Faschismus zu Rothfels’ Zeiten in mehrere Strömungen, die im Frühjahr 1933 heftig miteinander rivalisierten. Kehrs Verdikt wirkt also unzureichend begründet. Es wäre berechtigt, wenn er Rothfels dreierlei nachgewiesen hätte: dass er seine ostmitteleuropäischen Visionen gesamtgesellschaftlich verallgemeinerte und auf die Weimarer Republik selbst projizierte; dass sie Teil eines umfassenden völkisch-nationalistischen Expansionsprogramms waren und, drittens, einer spezifischen Strömung des deutschen Faschismus angehörten.

Dieser Nachweis kann jedoch geführt werden. Rothfels’ Vorschlag zur ständestaatlichen Neuordnung und zu der mit ihr verknüpften Einführung unfreier Arbeitsverhältnisse war keineswegs auf die osteuropäische „Völkermischzone“ begrenzt. Er stellte vielmehr die Verlängerung eines allgemeinen klassenpolitischen Restaurationsmodells dar, an dem Rothfels seit der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre gearbeitet hatte. Er wollte die subalternen Klassen in eine staatlich geeinte Gemeinschaft integrieren, um auch ihnen gegenüber die „Staatsidee“ von „Pflicht und Leistung“ durchzusetzen. Sein Versuch einer nachträglichen „inneren Reichsgründung“ nach dem Vorbild der Bismarck’schen Sozialstaatskonzeption ging mit der rückwärts gewandten Übertragung dieses Modells auf die „offene Ostgrenze“ des Reichs einher. Die am Modell der junkerlich-kapitalistischen Gutsherrschaft geschärfte Option für eine korporative Selbstverwaltung der patrizischen Stände gründete sich jedoch weiterhin auf die Bedingungslosigkeit der Staatsgewalt gegenüber Individuen und Gesellschaftsklassen. Rothfels verklammerte die beiden Denkfiguren des „absoluten Etatismus“ und der „völkisch-ständischen Neuordnung“ ähnlich wie Arthur Moeller van den Bruck. Wie dieser gehörte auch Rothfels zu den Visionären eines aus dem „preußischen Sozialismus“ hervorgehenden „Dritten Reichs“.

Zu einer derart weitgehenden Absage an die Weimarer Republik aus Mund und Feder eines wohlbestallten Spitzenbeamten gehörte zumindest bis zum „Preußenschlag“ vom 20. Juli 1932 eine radikale rechte Gesinnungsethik. Rothfels avancierte nicht zuletzt deshalb zum Meinungsführer und zog seit 1931/32 wie kein anderer die Nachwuchskräfte der bündisch-konservativen Gegenrevolution in seinen Bann. Mit ihnen zusammen begrüßte er die Präsidialkabinette als „Wiederbelebung des alten Obrigkeitsstaates“. Ja, die Präsidialkabinette sollten „nur Übergang sein“. Er plädierte für ein Bündnis zwischen dem Präsidialregime und den Nationalsozialisten, die in den Staatsaufbau integriert werden sollten.

Mit dieser Vorarbeit zur Zerstörung der Weimarer Republik ließ Rothfels es jedoch nicht bewenden. Seit 1932/33 kamen „gesamtdeutsche“ und „völkische“ Visionen hinzu. Aus den Ruinen von Weimar sollte ein neues „Reich“ hervorgehen, das auf zwei gleichgewichtigen Säulen beruhte: dem ostpreußisch-baltischen Nordosten und den südosteuropäischen Vorposten des früheren habsburgischen Vielvölkerreichs. Den tragenden Kern aber sollte „Mitteleuropa“ bilden, das „engere Deutschland“ mit seinem „östlich-südöstlichen Vorfeld“, dem eigentlichen „deutschen Volksboden“ und „Lebensraum.“ Und dieser Kern war dynamisch gedacht. Die Schürung der Nationalitätenkonflikte um Siedlungsboden und Grenzziehungen legitimierte nicht nur den regulierenden Zugriff auf die „Gemengelage“ der west- und südslawischen Ethnien, sondern sollte auch die Voraussetzungen zur Rückgewinnung der 1919/20 abgetretenen Territorien schaffen. Das implizierte die Annullierung der Bodenreform der ostmitteleuropäischen Staaten und die gewaltsame Durchsetzung einer neuen Agrarordnung. Zu Recht weist Ingo Haar darauf hin, dass Rothfels mit dieser Anverwandlung „volkstumspolitischer“ Doktrinen eine unverkennbare Brücke zum Nationalsozialismus schlug. Mit ihrer Verbindung von „absolutem Etatismus“, ständischem Korporatismus und aggressiv-völkischer Expansionsperspektive verfügte Rothfels’ Vision über alle wesentlichen Charakteristika einer faschistischen Doktrin.

Er war damit zwar kein Nationalsozialist, aber er betrachtete das Bündnis mit der NS-Massenbewegung als unverzichtbaren Bestandteil des Umsturzes im Innern und der anschließenden expansionistischen Machtentfaltung. Zweifellos lehnte Rothfels ihren biologischen Rassismus, dem er und seine Familie bald selbst ausgeliefert sein sollten, genau so ab wie die populistische Demagogie.

Vieles hatte Rothfels mit Franz von Papen gemeinsam, dem Vizekanzler der „Regierung der ‚nationalen Erhebung‘ “, obwohl dieser nicht das protestantische Bildungsbürgertum repräsentierte, sondern aus dem politischen Katholizismus einen rechtsextremen Flügel geformt hatte. Beide setzten außenpolitisch auf eine von „Mitteleuropa“ ausgehende Wiederauferstehung eines multiethnisch zusammengesetzten Großreichs unter deutscher Führung – ein Herrschaftsmodell, das die preußisch-junkerlich-protestantische und die rheinisch-schwerindustriell-katholische Strömung des deutschen Faschismus trotz signifikanter Unterschiede mit der Führungsgruppe der nationalsozialistischen Massenbewegung verband.

Nach der Bildung des Kabinetts Hitler-Papen-Hugenberg gerieten sie zunächst in eine diffuse Gemengelage mit den politischen Optionen der NSDAP-Führung. Sie wurden schließlich durch den Terror des NS-Apparats von den Schalthebeln der Macht verdrängt. Die konservativen Bündnispartner nahmen dies hin, weil die gemeinsame Entscheidung zur Hochrüstung und die damit verbundene Säuberung der NS-Massenbewegung von ihren plebejischen Strömungen im Sommer 1934 ihre materiellen Interessen sicherten. Franz von Papen blieb bis zum bitteren Ende ein treuer Koalitionspartner Hitlers. Nicht jedoch Hans Rothfels, der Papen an Integrität deutlich überragte. Denn zur politischen Marginalisierung kam bei ihm noch etwas anderes hinzu: seine Stigmatisierung zum Juden. Aber er wollte beides lange Zeit nicht wahrhaben und setzte in seiner Publizistik demonstrative Signale eines scheinbar ungetrübten historisch-politischen Bündnisses. Der Anspruch auf die geschichtspolitische Mitgestaltung der NS-Diktatur hielt sich erstaunlich lange. Doch waren Marginalisierung und Emigration dadurch nicht aufzuhalten, und dies führte zu Lernprozessen, die Rothfels nach 1938/39 die Rückwende zu einer neokonservativen Geschichtspolitik erleichterten.