Gottes schulflüchtige Kinder

aus Klosterzimmern BARBARA BOLLWAHN
DE
PAEZ CASANOVA
und VOLKER DERLATH (Fotos)

„Wir lernen ganz neu miteinander umzugehen – ohne Angst, ohne Feindseligkeit und ohne Misstrauen. Wir werden wie kleine Kinder. Wir leben in einem Umfeld, in dem man einander vertrauen kann. Die Liebe herrscht hier.“ Aus der Selbstdarstellung der „Zwölf Stämme“.

5.45 Uhr wird der Schlaf unterbrochen. Nicht vom Klingeln eines Weckers. Auf den Fluren sind Gitarrenklänge und Wortfetzen zu hören: „Seine Wege offenbaren“, „wie ein Gottessohn“ oder „im Herzen Europas“. Ein Traum? Ein Albtraum? Jemand klopft an die Tür und ruft fröhlich: „Guten Morgen!“

So beginnen die Tage der Glaubensgemeinschaft „Zwölf Stämme“, die sich der Liebe verschrieben hat. Der Liebe zu Jahschua, dem Sohn Gottes. In Klosterzimmern, einem 18 Hektar großen ehemaligen Zisterzienserkloster im Landkreis Donau-Ries im bayerischen Schwaben, leben 48 Männer und Frauen, 15 davon als Paare, mit ihren 35 Kindern. Die Brüder und Schwestern mit den hebräischen Namen warten auf die baldige Wiederkehr des Erlösers, bauen Kartoffeln, Mais, Getreide und Gemüse an, züchten Ziegen und Hühner, setzen das Gut instand und predigen unbedingten Gehorsam gegenüber den „Worten Jahschuas, des Messias“. Alle, ob Installateur, Sozialarbeiter, Studienabbrecher, allein erziehende Mutter, Bankkaufmann oder Fernmeldemonteur, haben ihr Vermögen in die Gemeinschaft eingebracht. Alkohol, Tabak, Fernsehen, Radio, Kino und Sex vor der Ehe lehnen sie ab. Auch die Schulpflicht. Sie weigern sich, ihre Kinder auf öffentliche Schulen zu schicke, um sie „von der Welt unbefleckt“ zu halten, wie sie sagen. Deshalb müssten sie den Unterricht selbst in die Hand nehmen: „Unsere Kinder gehören nicht dem Kaiser, sondern Gott.“

Geläut und schreiende Mütter

Während die Behörden in Niedersachsen und Baden-Württemberg, wo die Gemeinschaft zuvor lebte, den Konflikt nicht öffentlich austragen wollten und sich auf Kompromisse einigten, bekommen die Eltern in Bayern die Härte des Gesetzes zu spüren. Ihren Widerspruch gegen angedrohte Zwangsgelder in Höhe von 1.000 Euro pro Kind lehnte das Verwaltungsgericht ebenso ab wie ihre Klage gegen die Schulpflicht.

Dennoch weigern sich die Brüder und Schwestern weiterhin, ihre Kinder in die staatliche Schule ins nahe gelegene Dorf Deiningen zu schicken. Anfang Oktober kamen Polizisten in Uniform und Zivil, der amtierende Landrat und Vertreter des Jugendamtes nach Klosterzimmern. Glockengeläut und schreiende Mütter konnten nicht verhindern, dass die Kinder für einen Tag in die Schule gebracht wurden. Dabei blieb es jedoch vorläufig, denn Fernsehbilder von Kindern, die in Polizeibegleitung in die Schule gefahren werden, haben auch die Behörden in Bayern nicht gern.

Während das Landratsamt nun einen teilweisen Entzug des Sorgerechts prüft, geht das Leben in Klosterzimmern seinen gewohnten Gang. Morgens um sieben versammeln sich Männer mit Vollbärten und kurzen Pferdeschwänzen, Frauen mit langen Haaren und weiten Röcken mit ihren Kindern in der Kirche. Dort gibt es Umarmungen für die Nächstenliebe, Mate-Tee gegen die Kälte, Gitarren- und Geigenklänge für die Tänze, die Eltern und Kinder zu Liedern wie „Jauchzt vor dem Herrn“ aufführen.

Um neun geht der „göttliche Erziehungsauftrag“ weiter. Kinder zwischen 6 und 15 Jahren sitzen in dicken Jacken und Anoraks auf Stühlen in der Kirche. Sie preisen in deutschen und englischen Liedern Gott und danken ihm, dass er sie erschaffen hat. Vor ihnen steht Robert Pleyer, der auf den Namen Yathar getauft wurde, was „nützlich“ heißt. Der 33-Jährige hat einige Semester Sozialarbeit studiert und leitet das „Schulwesen“ in Klosterzimmern. Mit gescheiteltem Haar und Bart sieht er wie ein netter Ökobauer aus.

An diesem Morgen fragt er die Kinder nach „wertvollen Eigenschaften“. Nicht ohne ihnen den Grund seiner Frage zu erklären. „Unser Vater braucht Menschen, die seine wertvollen Eigenschaften ausdrücken.“ Anhand eines Lappens erklärt er den Begriff Eigenschaften. Die Kinder amüsieren sich, als er ihnen vorführt, dass ein Lappen nicht stehen kann. Bevor sie außer Rand und Band geraten, holt sie der Lehrer zurück auf den Boden der Realität in Klosterzimmern. „Wir sind hier, um die Eigenschaften von Gott zu verkünden. Wie ist unser Vater?“, fragt er mit Nachdruck. „Das muss jetzt zackig gehen.“

Eben, Sarah, Rachel und Johanna und wie sie alle heißen, heben den Arm und sagen auf, was ihnen beigebracht wurde: Liebe, Barmherzigkeit, sanftmütig, geduldig, liebevoll, fürsorglich, Frucht vom Geist, treu. Das reicht dem Lehrer nicht. „Woher wissen wir das?“, fragt er und blickt ernst in die Runde. „Warum hat Gott uns nach Klosterzimmern gebracht?“ Die Antwort auf die letzte Frage liefert er selbst. „Um seine Eigenschaften auszudrücken.“ Die Kinder nicken.

Robert Pleyer kennt, wie alle anderen Erwachsenen, die Welt außerhalb der Gemeinschaft und glaubt, die Kinder davor bewahren zu müssen. Er hat vor vielen Jahren auf der Suche nach einer alternativen Lebensform die „Zwölf Stämme“ für sich entdeckt und etwas, was er vorher in seinem Leben vermisste. „Wahre Freundschaft“ und ein Gefühl des „Füreinanderdaseins“. Dass das Leben in der Gemeinschaft den Kindern wichtige Dinge vorenthält, findet er nicht. „Wir haben hier eine wunderbare Realität“, sagt er mit einem zufriedenen Lächeln. Nach der Logik der Gemeinschaft geht es nicht darum, was die Kinder nicht lernen, sondern um das, was ihnen erspart bleibt. „Ich hätte als Kind nicht geklaut, wenn meine Klassenkameraden nicht gewesen wären“, sagt Robert Pleyer. Außerdem hätten die Schüler „billige und schmutzige Magazine“ getauscht. Er findet das schlimm.

Sechs Brüder und Schwester unterrichten die Kinder in sechs Klassen in Lesen, Schreiben, Rechnen, Englisch, Musik und Sachkunde. Die Klassen umfassen zum Teil nicht mehr als drei Kinder, weil Jungs und Mädchen getrennt lernen. Das Lehrmaterial, eine Mischung aus selbst gefertigten Lektionen und abgeänderten normalen Schulbüchern, ist ein Abbild des Lebens in der Gemeinschaft. Die Kinder lernen nicht, was ein Marathonlauf, ein Schachspiel, ein Mondflug oder der Bundestag ist. Die dargestellten Menschen sehen genauso aus wie die Brüder und Schwestern. Und mit den Bildern von Feld- und Tischlerarbeiten für die Jungen und Nähen und Kochen für die Mädchen werden die Kinder auf ihre zukünftigen Arbeiten vorbereitet.

Das Ziel der Gemeinschaft besteht darin, zu wachsen. Sie glauben, eines Tages den Erdball zu füllen. Die Kinder werden nicht gefragt, ob sie Teil dieser „neuen Gesellschaft“ sein wollen. Sie werden dazu gemacht.

Die Erwachsenen sind überzeugt, ihre Kinder zu schützen. „Wir brauchen uns nicht mit Wissen zu schmücken“, sagt Dieter Musiol, der als eine Art Pressesprecher fungiert. Sozialkompetenz heiße nicht, den Umgang mit der U-Bahn zu lernen, sondern ehrlich, treu, verständnisvoll und hilfsbereit zu sein. Der 52-Jährige ist Autoelektriker und stieß vor 24 Jahren auf der Suche nach dem Sinn des Lebens zu den „Zwölf Stämmen“. Seitdem trägt er den Namen Nahum, „Trost“. Dass die Kinder irgendwann Nachteile haben könnten, will er nicht sehen. Als Heranwachsenden sei es ihnen freigestellt, in der Gemeinschaft zu bleiben, sagt er, fügt aber hinzu: „Die Kinder bleiben bei uns.“

Sie will Gott gefallen

Die 19-jährige Joy ist ein nettes, schüchternes Mädchen, das auf den Namen Simchah Schalomah, „Freude und Friede“, hört und das zusammen mit anderen dafür sorgt, dass täglich Essen auf dem Tisch steht. Sie wurde in einer Gemeinschaft in den USA geboren. Ihre Mutter ist Amerikanerin, der Vater Deutscher. Nach einigen Jahren in Gemeinschaften in Frankreich und England kam sie vor sieben Jahren nach Deutschland. Sie hätte vor einigen Jahren die Gemeinschaft verlassen können. Aber sie will nicht. „Wir leben, um Gott zu lieben. Ich will mich selbst reinhalten und Gott gefallen“, gibt sie wieder, was ihr beigebracht wurde. Ob sie etwas vermisst? Sie überlegt. „Eine Ausbildung wäre nicht schlecht“, sagt sie. „Einige Sachen konnte ich nicht lernen.“ Sie musste sich um sechs Geschwister kümmern. Gerne würde sie richtig schneidern und musizieren können und nicht nur ein bisschen. Dann spricht sie von „Abwägen“ und „Werten in der Gemeinschaft“ und sagt, dass sie zuversichtlich ist, bei den „Zwölf Stämmen“ richtig nähen und musizieren zu lernen.

Joy befindet sich zurzeit in einer wichtigen Phase ihres Lebens. Seit einem Monat ist sie in der „Wartezeit“. Das bedeutet: Wenn ein Mann und eine Frau aus der Gemeinschaft Gefallen aneinander finden, treffen sie sich etwa drei Monate lang zu Gesprächen, um herauszufinden, ob sie sich binden wollen. Der Mann, der ihre Eltern um eine „Wartezeit“ mit ihr bat, ist Robert Pleyer, der sie als Kind unterrichtet hat. „Ich mag ihn. Ich will rausfinden, ob es mehr ist“, sagt Joy etwas verlegen. „Bis jetzt läuft es gut. Ja, ich denke ans Heiraten.“ Sie erzählt, dass sie unbedingt Kinder haben will. „Aber nicht sieben wie meine Mutter.“