„Im Moment ist Berlin Paris“

Carmen-Francesca Banciu hat eine Liebeserklärung an Berlin geschrieben. Weil hier zwei veraltete Systeme aufeinander treffen. Weil Berlin mehr „Pariser Flair“ hat als Paris. Weil die Stadt Einflüsse annimmt. Weil alles eine Frage der Liebe ist

Interview WALTRAUD SCHWAB

taz: Frau Banciu, Sie haben ein Buch geschrieben „Berlin ist mein Paris“. Wie kam es dazu?

Carmen-Francesca Banciu: Ich wollte nach Paris und bin in Berlin hängen geblieben. Hier habe ich gemerkt, dass das, was ich eigentlich in Paris suchen wollte, auch in Berlin vorhanden ist.

Was?

Nicht die Architektur. Nicht die schöne Stadt. Sondern die künstlerische Auseinandersetzung. Dass Künstler sich Berlin aussuchen, um sich mit der Welt zu messen. Sie kommen hierher, um zu sehen, ob ihre Kunst außerhalb der Grenzen ihres eigenen Landes Bestand hat. Möglich ist das, weil Berlin eine besondere Stadt geworden ist nach der Wiedervereinigung.

Eine besondere Stadt?

Ost und West sind hier aufeinander getroffen. Aus den zwei Erfahrungen – Kommunismus und Kapitalismus – soll jetzt eine neue Erfahrung entstehen, eine, die es bisher noch nicht gegeben hat. Das ist neu und einmalig.

Können Sie das Neue schon benennen?

Im Sozialismus haben sich die Menschen ursprünglich für soziale Gerechtigkeit eingesetzt. Vergessen wurde aber, dass der Mensch auch Jagdinstinkte hat, dass er Konkurrenz braucht, um sich zu bestätigen. So eine Erfahrung hat man im Kommunismus nicht erlaubt. Dort sollte jeder das Gleiche brauchen. Im Westen dagegen hat man eine soziale Struktur aufgebaut, den Wohlfahrtsstaat. Der bricht aber langsam auch zusammen. Im Moment erleben wir chaotische Zeiten. Einen Übergang. Das Neue aber wird nur funktionieren, wenn man die Erfahrungen aus beiden Systemen gleichberechtigt mit einbezieht.

Sie sehen den Kapitalismus am Ende?

Es ist ein veraltetes System. Arbeitslosigkeit. Korruption. Das Bildungssystem, das Gesundheitssystem und sogar das Banksystem brechen zusammen. Kapitalismus ist auch nur ein Experiment. Mit seinen Glanzzeiten, seinen Imperfektionen und Grausamkeiten.

Sie haben in Bukarest gelebt und erfahren, wie es ist, wenn ein politisches System kollabiert.

Ja, und ich denke, es war richtig, dass es zusammenbrach. Es funktionierte nicht.

Wie hat man in Rumänien überhaupt überlebt?

Jeder hat den Staat – bewusst und unbewusst – sabotiert, so viel er konnte, damit er endlich zusammenbricht.

Das klingt humorvoll.

Rumänen sind humorvolle Menschen. Auch in den schlimmsten Katastrophen suchen sie das Komische. Es gibt nichts Heiliges. Das ist gut einerseits. Aber andererseits sehr schlecht, weil man nicht sofort eingreift, dort, wo man eingreifen müsste. Mit so einer Haltung relativiert man alles. Eigentlich ist es Fatalismus.

Nach dem Zusammenbruch in Rumänien sind Sie nach Deutschland übergesiedelt. Konnten Sie Deutsch?

Nicht sehr gut, aber ich konnte es. Meine Großmutter ist während der k. u. k. Monarchie groß geworden. Und meine Urgroßmutter hat in Wien Hebamme gelernt. Danach hat sie in Rumänien eine kleine Frauenklinik gegründet. Sie hat in der Familie die deutsch-österreichische Sprache und Kultur eingeführt. Sie war – wie ich – allein erziehend mit drei Kindern, nachdem mein Großvater eines Tages vergaß, nach Hause zu kommen.

Die Geschichte vom Mann, der Zigaretten holen geht und nicht zurückkommt?

Er hat sich später aus Amerika gemeldet, aber nicht sehr lange.

Also keine deutschen Vorfahren?

Da die Gegend historisch mal rumänisch, mal ungarisch war, mal zur k. u. k. Monarchie gehörte und die „kakanischen“ Einflüsse sehr stark waren, weiß man es nicht wirklich. Es ist eine gemischte Familie. Italiener, Franzosen oder französische Schweizer und Ungarn aus der Slowakei sind auch drin.

Und jüdische Ahnen?

Meine Großmutter hatte angeblich eine Affäre mit einem jüdischen Professor, und meine Mutter soll seine Tochter gewesen sein. Als ich nach Deutschland ging, wurde mir das gesagt. Bis dahin war es ein Familiengeheimnis. Ich weiß nicht, warum ich es plötzlich erfahren musste.

Als Warnung vor den Deutschen?

Wahrscheinlich.

In Berlin haben Sie dann Ihr Paris gefunden?

Ja. Nicht nur in der Kunst, auch im Alltag. Selbst wenn man protestieren wird, das ist mir egal: Ich habe das „Pariser Flair“ in Berlin gefunden. Das sage ich nicht nur aus der Perspektive einer Rumänin mit Kommunismuserfahrung. Ich beobachte die Stadt seit zehn Jahren, und ich sehe, wie sie sich verändert. Auch was die Kleidung betrifft. Als ich nach Berlin kam, kleideten sich die Berlinerinnen unglaublich schlecht. Es war für mich empörend, zu sehen, dass Eleganz als Zeichen von Dekadenz empfunden wurde. Und das in einer Welt, wo es doch an Geld nicht mangelt, wo jeder für sich einen Stil finden kann, ohne in teuren Boutiquen einzukaufen. Ich merke, dass sich das geändert hat. Auch was die kulinarischen Gewohnheiten betrifft, hat sich Berlin verändert. Es gibt in dieser Stadt eine so bunte Mischung an Menschen, die alle etwas mitgebracht haben. Berlin hat es angenommen und sich davon prägen lassen. Das sieht man.

Berlin, ein Ort der Sehnsucht?

Ich hatte Sehnsucht nach Paris. Ich hatte Sehnsucht, wenn ich Französisch hörte. Obwohl ich damals nur den Mythos Paris kannte und noch gar nie dort gewesen war. Ich kannte die Stadt aus der Literatur. Aber der Mythos lässt sich übertragen auf Metropolen, wo das Leben pulsiert. Im Moment ist Berlin Paris, und New York ist Paris, und auch Bukarest ist Paris. Ich glaube, Paris ist weniger Paris. Ich wollte nicht nach Berlin. Ich bin hängen geblieben. Ich bin dankbar. Manchmal wählt das Leben für einen, und es ist eine bessere Wahl als die, die man selber getroffen hätte.

In Ihrem Buch ist alles im Aufbruch, in Bewegung, aber immer mit melancholischem offenem Ausgang. Spiegelt sich darin Ihre eigene Biografie?

Meine Biografie und die von Berlin haben etwas gemeinsam. Alles ist offen und geschieht rasant. Das Leben ist ein Fluss, der ständig weitertreibt. Das hat was Gutes, aber es hat auch was Trauriges. Ein Kommen und Gehen. Diesen Zwiespalt spüre ich: Freude an den Veränderungen und Trauer über das Verschwinden. Das habe ich versucht aufzuschreiben.

Gleichzeitig vermitteln Sie den Eindruck, dass Berlin einmal fertig und vollkommen sein wird.

Vollkommen nicht, aber in einem Zustand, wo die Veränderungen so nicht mehr möglich sind. Wenigstens was die Architektur betrifft, und das beeinflusst eine Stadt ja auch. Irgendwann sind die Baulücken zu und die alten Gebäude, die man wegsprengen will, weggesprengt.

Ist das nicht das Ende, wenn die Stadt einmal fertig ist?

Ich wünsche es nicht. Vielleicht ist es auch so, dass Berlin durch seine geografische Lage und seine ganz spezielle politische Rolle in Europa ein Ort des Durchwanderns ist. Wie bei der Völkerwanderung. Ein Kommen und Gehen. Die Menschen ziehen durch die Stadt und hinterlassen Spuren. Dadurch wird sie nie fertig.

Verstehen Sie sich selbst als Nomadin?

Im Moment habe ich den Eindruck, ich habe hier noch viel zu tun. Ich weiß nicht, ob ich immer in Berlin bleiben werde, aber jetzt ist es mein Wunsch, hier zu sein. Als Nomadin verstehe ich mich nicht. Das hieße, ich wäre nirgends sesshaft. Ich fühle mich sesshaft zurzeit. Es ist eine begrenzte Zeit, die auch mein ganzes Leben lang dauern kann. Ich kann mir vorstellen, dass ich gehe, wenn ich alles gelernt habe, was ich lernen muss, und alles gegeben habe, was ich geben konnte. Vielleicht ist das nie.

Sie sind nicht eingebürgert?

Nein. Ich habe aber einen deutschen Pass beantragt.

Bis dahin haben Sie nur die Erlaubnis, Ihr Geld mit Schreiben zu verdienen?

Ich glaube, inzwischen würde ich eine Arbeitsgenehmigung bekommen, wenn ich eine beantrage. Mehrere Jahre aber stand im Pass, dass ich nur als Schriftstellerin hier arbeiten darf.

Sie sind demnach eine deutsche Schriftstellerin in spe?

Jedenfalls bin ich keine Exilautorin. Immer wieder betone ich das, und immer wieder wird mir das Gegenteil in den Mund gelegt. Ich bin freiwillig gekommen, und ich lege großen Wert darauf. Nicht jeder, der aus dem Osten ist, ist geflüchtet. 1990 war eine Zeit gekommen, wo ich nicht nur selbst entscheiden konnte, was ich schreibe, ob ich kollaboriere oder den Staat sabotiere, sondern ich konnte auch entscheiden, wo ich leben darf. Dem bin ich nachgegangen. Wenn ein Deutscher oder Amerikaner irgendwohin geht, weil er da was zu tun hat oder Lust dazu hat, dann wird auch nicht angenommen, er sei geflüchtet.

Sie sind in Berlin, weil es Ihnen hier gefällt?

Ja, und weil ich eine Aufgabe habe. Das lässt sich nicht trennen. Mein entstehendes Werk ist eine Brücke, ein Weg, der Menschen aus Osten und Westen zusammenbringt. Sie gegenseitig zur Verständigung und Toleranz animiert. Für mich ist wichtig, dass Autoren, die hier leben, die im europäischen Kontext leben und aus dem deutschen oder europäischen Kontext heraus schreiben, auch so wahrgenommen werden. Stattdessen aber wird man als „rumänische Autorin“, als „türkischer Autor“, als was auch immer betrachtet, obwohl man hier lebt und vielleicht nur auf Deutsch schreibt. Deutsch ist mehr als nur Deutsch. Es ist die Sprache, in der wir die Europäische Erfahrung machen und ausdrücken.

Sie haben Ihr Buch zumeist im Restaurant „Sale & Tabacchi“ an der Kochstraße im „taz-Haus“, wie sie sagen, geschrieben. Am letzten Tisch am Fenster ist Ihr Platz. Warum hier?

Für mich ist die Nähe zum Checkpoint Charlie ein Ort der Erinnerung an die Trennung der Systeme und des Landes. Er hat mit meiner Geschichte, aber auch mit der Geschichte dieser Stadt zu tun. Darüber muss ich schreiben. Auch über diesen Schmerz der Trennung und der Isolation, der deswegen in mir drin ist und der vielleicht irgendwann verschwinden wird.

Ich dachte, Sie sind im „Sale“, weil es so viel zu entdecken gibt.

Ja, auch.

Was entdecken Sie?

Ich sehe Menschen, und ich sehe ihre Entwicklung. Ich beobachte, was die Leute von einem Tag auf den anderen machen, welche Zeitung sie lesen, mit wem sie sich treffen, ob sie traurig sind oder sich verliebt haben. Man kann viel von den Gesichtern ablesen. Manchmal kann man auch vom Bürgersteig Geschichten aufpicken. Man sieht eine Szene vor dem Fenster und weiß intuitiv, was davor geschehen ist und was danach kommen wird.

Obwohl Sie Berlin beschreiben, sind Ihre Geschichten fiktiv?

Das Buch ist keine Berliner Dokumentation, aber auch nicht ausdrücklich fiktiv. Es ist nichts erfunden in dem Sinne, dass es nicht stimmt. Es ist so geschrieben, dass manche Menschen sich erkennen und andere nicht.

Das Buch ist eine Liebeserklärung an die Stadt?

Sowieso ist alles eine Frage der Liebe. Die Liebe ist der wichtigste Motor, der die Menschen antreibt, und so geht es auch mit der Stadt. Wenn man in einer Stadt lebt und sie wirklich wahrnimmt, dann liebt man sie. Und umgekehrt: Man liebt sie, und deshalb beschäftigt man sich mit ihr. Sicher ist Berlin eine Stadt, die ich liebe. Manchen ist es zu viel Liebe. Ich glaube, das hat aber etwas mit Deutschland zu tun. Die Deutschen können es nicht ertragen, wenn sie gelobt werden. Sie haben dauernd Zweifel, ob das jetzt opportun ist, gelobt zu werden. Ist es wirklich so eine tolle Stadt? Man befürchtet, man leide an Größenwahn.

In Ihrem Buch kommt Tito, der italienische Kellner aus dem „Sale“, vor, der seine Freundin, sein Kind und sich umgebracht hat.

Ich war erschüttert, als ich das hörte, weil er aus meiner Sicht ein patenter Mensch war. Mit freundlicher Ausstrahlung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein Mann tötet. Aber als Schriftstellerin weiß ich, dass Menschen komplex und widersprüchlich sind. Und eine Schattenseite haben. War es Eifersucht?

Vielleicht?

Der Moment von Hass? Weil die Liebe zu groß und der Hass zu groß war? Oder die Wut? Aber es hat mich erschüttert, weil ich ihn kannte. Sein offenes Wesen, sein kräftiger Händedruck. Wir haben uns Guten Tag gesagt. Er hatte was Aufbauendes. Was Elegantes. Er hat sich auch so gefreut, dass er im Buch vor kam.