Die böseste Frau Britanniens

In Großbritannien ist seit 1965 kaum ein Kind auf den Namen Myra getauft worden

Von RALF SOTSCHECK

Das Foto der Wasserstoffblondine mit dem starrem Blick und den schmalen Lippen ist zum Symbol für das Böse geworden. Die Polizeiaufnahme der fünffachen Kindesmörderin Myra Hindley hat auch mehr als 30 Jahre nach den Taten nichts von ihrem Einfluss auf die Phantasie des Betrachters eingebüßt.

Als der Künstler Marcus Harvey vor fünf Jahren dieses Foto als Vorlage für ein Acryl-Porträt für die Royal Academy nahm und dabei Gussformen von Kinderhänden benutzte, waren die Briten entsetzt. Das Bild wurde mit Eiern und Farbbeuteln zerstört, Harvey musste untertauchen. Auch die Popband The Smiths erntete Zorn, als sie das Foto auf einem Albumcover verwendete. Im kollektiven Gedächtnis der britischen Öffentlichkeit wird Myra Hindley immer so aussehen, wie sie damals, Mitte der Sechzigerjahre, aussah.

Am Freitagabend ist sie gestorben, und wieder war das Foto auf den Titelseiten von sämtlichen britischen Zeitungen. Britannien hatte damals seine Unschuld verloren, schrieb der Guardian, Kinder konnten fortan nicht mehr sorglos draußen spielen. Es war eine Zeit des Aufbruchs, die Beatles hatten ihre ersten Hits, mit der Wirtschaft ging es bergauf – und dann geschehen fünf grausame Morde an Kindern, begangen von einer Frau. Hindley war die Komplizin, die die Opfer zwischen zehn und siebzehn Jahren anlockte. Vergewaltigt und ermordet wurden sie von Brady. Dennoch ist Hindley im Bewusstsein der britischen Öffentlichkeit die „Moor-Mörderin“, ihr Foto – und nicht Bradys – wurde zur Ikone des Bösen.

Hindley war 20, als sie Ian Brady traf. Er war einer ihrer Kollegen bei der Firma Millwards Merchandisers in Manchester, wo sie als Sekretärin arbeitete. Brady träumte vom perfekten Mord, Hindley sollte dabei helfen. Die Leichen versteckten sie im Saddleworth-Moor. Gefasst wurden sie, weil Hindley ihren Schwager beim letzten Mord im Oktober 1965 zum Komplizen machen wollte. Doch der ging zur Polizei.

Besonders abscheulich war der Mord an der zehnjährigen Leslie Ann Downey am zweiten Weihnachtstag 1964. Hindley und Brady hatten die letzten Worte des Mädchens, das schrie und um sein Leben bettelte, sowie Hindleys Befehl, sie solle endlich den Mund halten, auf Tonband aufgenommen und den Eltern am Telefon vorgespielt. Das brachte ihr den Titel „böseste Frau der britischen Geschichte“ ein. Kaum ein Kind in Großbritannien ist seitdem auf den Namen Myra getauft worden.

Brady und Hindley wurden 1966 zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt, Brady kam in eine geschlossene Anstalt, Hindley ins Hochsicherheitsgefängnis Durham. Zunächst schrieben sie sich noch Liebesbriefe, doch 1972 brach Hindley den Kontakt ab. Sie wurde wieder zur gläubigen Katholikin, die sie vor ihrer Begegnung mit Brady war, und sie schloss im Gefängnis ein Humanismus-Studium ab.

Seit fast 30 Jahren versuchte sie mit legalen und illegalen Methoden, ihre Freiheit zu erlangen. Ein Ausbruchsversuch mit Hilfe eines Gefängniswärters, der sich in sie verliebt hatte, scheiterte. Über jeden Antrag auf Haftentlassung berichteten die Medien ausführlich, stets mit dem berüchtigten Foto von 1965 illustriert. Und jedesmal setzten die Diskussionen erneut ein, die Taten wurden detailliert beschrieben, die Familien der Opfer, die Rache geschworen hatten, befragt. Die Mordfälle blieben dadurch so präsent, als ob sie gestern geschehen wären.

Die letzten Schreie einer Zehnjährigen spielten sie den Eltern am Telefon vor

Auch bei ihren Mitgefangenen war Hindley verhasst. 1978 wurde sie von ihnen so übel zugerichtet, dass ihr Gesicht mit Hilfe plastischer Chirurgie wiederhergestellt werden musste. Dennoch kämpfte sie weiter mit juristischen Mitteln um ihre Freiheit und versuchte gleichzeitig, sich als geläuterte Sünderin zu präsentieren. Sie gewann David Astor, den ehemaligen Herausgebers des Observer, und den einflussreichen Lord Longford für ihren Fall. 1998 beurteilte ein Berufungsgericht sie als ungefährlich und verlegte sie in das normale Gefängnis Highpoint in Suffolk. Das veränderte aber das Bild nicht, das sich die breite Öffentlichkeit von ihr als das Böse schlechthin gemacht hatte.

Die meisten glaubten, dass sie nur sagte, was die Leute hören wollten, um endlich freizukommen. Vor sechs Jahren schrieb Hindley einen langen Brief an den Guardian. Er endete mit der Beschreibung des Mordes an Pauline Reade: „Ich stand da und schaute auf die dunklen Umrisse der Felsen, die sich vor dem Horizont abzeichneten, und drei Personen starben an diesem Abend: Pauline, meine Seele und Gott.“

Der höchste britische Richter, Lordoberrichter Lane, empfahl 1985 eine Gefängnisstrafe von 25 Jahren für Hindley. Der damalige Innenminister David Waddington entschied 1990, als Hindleys Entlassung anstand, dass „lebenslänglich“ in ihrem Fall genau das bedeuten sollte. Sämtliche Innenminister, ob Tory oder Labour, haben das seitdem bestätigt. Doch das verstößt wahrscheinlich gegen die Europäische Menschenrechtscharta, die vor zwei Jahren in Großbritannien in Kraft getreten ist. Vorigen Monat klagte ein anderer „Lebenslänglicher“, Anthony Anderson, vor dem Oberhaus dagegen, dass in Großbritannien nicht ein Richter, sondern ein Politiker die Länge einer Strafe nach Belieben festsetzen kann. Die Lords werden ihm wohl demnächst Recht geben. Dann wäre der Weg geebnet für 225 Gefangene, bei denen der Innenminister die vom Richter verhängte Strafe erhöht hat. 70 von ihnen sitzen länger als vom Gericht empfohlen ein.

Myra Hindley war seit fast 36 Jahren im Gefängnis. Am Freitag abend starb die Kettenraucherin an Lungen- und Herzversagen. Sie ist 60 Jahre alt geworden. Ihr ehemaliger Partner Ian Brady sagte, er beneide sie. Seit 1999 versucht er vergeblich, sich zu Tode zu hungern.