Von den Sowjets zur Nato

Vor kurzem noch Tabu: Die Aufnahme der baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen ins transatlantische Verteidigungsbündnis scheint sicher

STOCKHOLM taz ■ Als Träumer galt Lettlands damaliger Ministerpräsident Andris Berzins, als er Anfang 2001 sagte: „Ich glaube, wir können 2002 grünes Licht bekommen.“ Neben Slowenien, das damals als einziger „sicherer“ Kandidat galt, schien sich nur noch Litauen so zeitig für eine Nato-Mitgliedschaft qualifizieren zu können. Vilnius besitzt eine starke Lobby im US-Senat.

Mehr als 1 Million ExillitauerInnen leben in den USA. Litauen hat nicht das Problem einer starken russischen Minderheitsgruppe im Land, und es wurde gelobt, weil es fleißig in den USA einkaufte und aufrüstete.

Auch grenzt Litauen – wie Polen – „nur“ an Kaliningrad. Estland und Lettland haben demgegenüber eine direkte Nato-Russland-Grenze. Dass es sich um ehemalig sowjetisches Territorium handelt, barg für Russland zusätzlichen Symbolwert. Noch unter Boris Jelzins Präsidentschaft galt auch im Westen eine Nato-Mitgliedschaft der baltischen Staaten weithin als Tabu. Man suchte deren Sicherheitsbedürfnis mit einer Reihe von Zusammenarbeitsabkommen abzudecken. Die Zeiten haben sich geändert. Gab sich die Bush-Administration im Juli letzten Jahres noch zweifelnd, was einen Nato-Beitritt angeht, wurde darüber spätestens seit dem 11. September in Washington nicht mehr diskutiert. Er hoffe, dass die Nato-Erweiterung nicht den russischen Interessen schade, war das Einzige, was Wladimir Putin bei seinem letzten Treffen mit Nato-Generalsekretär George Robertson in Brüssel noch zu sagen hatte.

Stabiler Ostseeraum

Der Stabilität im Ostseeraum werde es dienen, wenn Estland, Lettland und Litauen Mitglieder werden, lautet die offizielle Nato-Linie. Tatsächlich verbirgt sich aber hinter der Nato-Erweiterung nach Nordosten eher politische Symbolik. Gerade einmal 20.000 Wehrpflichtige bringen die drei Länder auf. Mit einer Ausrüstung, die größtenteils ausgemusterter Überschuss aus Schweden, Dänemark oder Deutschland ist. Wie überhaupt der bisherige Aufbau der Armeen im Baltikum vor allem ein Gemeinschaftsprojekt der westlichen Nachbarn war.

„Baltbat“, die Teilnahme an internationalen Friedenseinsätzen, war 1994 die erste formalisierte militärische Zusammenarbeit gewesen. Dänemark war dafür damals der Initiator und blieb seither auch die treibende Kraft für eine baltische Nato-Mitgliedschaft. 1995 kam mit „Baltnet“ eine Koordinierung der zivilen und militärischen Flugüberwachung mit der der Nato hinzu. Gefolgt 1997 von „Baltsea“, das den materiellen Nato-Beistand organisiert, und 1998 „Baltron“, einer von Deutschland geführten gemeinsamen Flottenzusammenarbeit. 1999 wurde unter Führung des Nicht-Nato-Lands Schweden die baltische Verteidigungshochschule „Baltdefcol“ im estländischen Tartu aufgebaut, die die Offiziere aller drei Länder ausbildet.

Die Tatsache, dass sich Tallinn, Riga und Vilnius gegenüber der Nato verpflichten müssen, trotz teilweise bitterer Armut zwei Prozent des BNP für die Verteidigung aufzuwenden, trifft kaum auf innenpolitischen Widerstand. Eine Nato-Mitgliedschaft gilt weithin als wichtiger als die in der EU und wird von über zwei Dritteln der Bevölkerung begrüßt. Was das Stichwort „Nato“ bewirkt, zeigte sich kürzlich im lettischen Parlament. Jahrelange kritisierten Europäische Union, Europarat und OSZE das die russische Minderheit diskriminierende Staatsbürgerschaftsrecht – vergeblich. Als einige US-Senatoren deshalb eine Nato-Mitgliedschaft in Frage stellten, wurde das Gesetz prompt geändert.

REINHARD WOLFF