Welche Gesundheit wollen wir?

Die Medizin setzt auf Hochleistung – und schafft sich so einen Teil ihres Bedarfs selbst. Was fehlt, ist eine Vision davon, was Gesundheit und Wohlbefinden bedeuten könnten

Niemand nähme Ulla Schmidt finanzielle Einschnitte übel, wenn sie deutlich machte, was sie will

Ulla Schmidt ist wirklich nicht zu beneiden. Sie bezieht von allen Seiten Prügel für das politische Stückwerk, das sie als Gesundheitsreform ausgibt. Der Vorwurf an die unverhofft zur Superministerin aufgewertete Politikerin lautet nicht, dass sie sparen muss, sondern dass hinter den Sparplänen kein Konzept und keine Perspektive erkennbar sind.

Was fehlt, ist ein Entwurf von dem, was Gesundheit und Wohlbefinden bedeuten, welche Medizin wir wollen und wie sie zukünftig finanziert wird. Denn trotz aller Fortschritte in der Medizin geht es den Menschen in den industrialisierten Ländern heute nicht besser als vor zwanzig Jahren. Zwar ist die Lebenserwartung kontinuierlich gestiegen. Etliche Infektionskrankheiten wurden besiegt, die Häufigkeit der Herz-Kreislauf-Erkrankungen geht zurück. Schöne Aussichten, möchte man meinen.

Doch trotzdem klagen immer mehr Menschen über unklare Erkrankungen und diffuse Befindlichkeitsstörungen. Schon heute haben in den Praxen der Mediziner fast die Hälfte aller Patienten „funktionelle Beschwerden“. Darunter versteht man chronische Leiden und Beschwerden, bei denen nichts Krankhaftes festgestellt wird. Häufig sind Magen und Darm, Herz-Kreislauf-System und Rücken betroffen. Der Umgang damit ist schwierig. Bekommen die Patienten zu hören, sie haben nichts, sind sie enttäuscht. Wird ihnen gesagt, sie haben etwas, sind sie auch enttäuscht. Am Besten sagt der Arzt: Wir finden keine Ursache, aber sie haben trotzdem Beschwerden. Allerdings muss man sich fragen, wie weit die Diagnostik gehen soll und ab wann die Untersuchungen schädlicher werden als die Beschwerden.

Die Menschen fühlen sich laut aktuellen Umfragen nicht wohler als früher. Unsere Wahrnehmung von Gesundheit verflüchtigt sich unter dem Diktat von Risikoabwägungen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen. Ob Gentest oder Gesundheitscheck – irgendetwas wird immer gefunden.

Und so gibt es kaum noch Gesunde, nur Menschen, die nicht gründlich genug untersucht worden sind. Wenn es uns doch einmal gut geht, sorgt eine Befindlichkeitsindustrie aus Ärzten, Patienten, Pharmaunternehmen und Betroffenengruppen, die jede Abweichung zur Krankheit erklärt, schon dafür, dass uns ein Zustand ohne Beschwerden suspekt vorkommt.

Die Medizin hat seit dem Zweiten Weltkrieg ständig ihren Zuständigkeitsbereich ausgeweitet – und damit ihren Teil zur Medikalisierung des Lebens beigetragen. Die Folgen sind längst spürbar. Immer häufiger ist nicht mehr nur von den möglichen Komplikationen einer Erkrankung die Rede, sondern von den Nebenwirkungen bei Diagnostik und Therapie oder den Unwägbarkeiten, die sich aus unklaren Vorsorgeergebnissen ergeben. Die Hochleistungs- und Absicherungsmedizin schafft sich damit einen Teil ihres Bedarfs selbst. Schon jetzt gibt es in den Praxen immer mehr Gesunde mit Befunden, die keine Bedeutung haben und immer mehr Kranke ohne Befund.

Und das Gesundheitssystem? Keiner der bisherigen Minister konnte die sich immer schneller drehende Aufwärtsspirale der Ausgaben stoppen. Die Lobby, die am lautesten schreit, wird am wenigsten beschnitten. Seit Jahren kritisieren Vertreter einer „evidenzbasierten“ Medizin, dass mehr als die Hälfte aller diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen keiner wissenschaftlichen Überpüfung standhalten und in ihrer Wirksamkeit nicht bewiesen sind.

Ein origineller amerikanischer Ökonom warnte bereits in den Neunzigerjahren davor, dass die Gesundheitssysteme weiter expandieren, während sich an den Inhalten der Medizin nichts ändert. Die USA würden von Küste zu Küste zu einem riesigen Krankenhaus werden – in dem jeder Bewohner entweder arbeitet oder als Patient aufgenommen wird. Es ist anzunehmen, dass diese Prognose auf alle industrialisierten Länder zutrifft.

Die Folgen dieser Entwicklung sind grotesk, heute schon. Eine Untersuchung hat im Frühjahr 2002 ergeben, dass sich die Menschen in den USA weniger gesund fühlen als die im indischen Bundesstaat Bihar, obwohl die Amerikaner das Vielfache in ihre Gesundheit investieren. Deutschland gibt mit den USA und der Schweiz prozentual das meiste Geld für Gesundheit aus. Aber es steht weder bei den einschlägigen Gesundheitsparametern noch bei der Lebenserwartung auf vorderen Plätzen.

Anlass genug, die gegenwärtigen Konzepte der Medizin zu hinterfragen. Denn das Geld wird in den meisten Staaten nicht für Gesundheit, sondern zur Behandlung von Krankheiten verwendet. Programme zur Gesunderhaltung werden hingegen kaum unterstützt: 95 Prozent der Ausgaben fließen in die Diagnose und Therapie von bereits eingetretenen Krankheiten. Mittlerweile hat sich das Dilemma auch unter Ärzten herumgesprochen. Das Fachblatt British Medical Journal widmete der Frage „Zu viel Medizin?“ unlängst ein Themenheft.

Teil dieser Entwicklung ist auch eine veränderte Einschätzung des Alters. Das Nachlassen der Leistungsfähigkeit mit dem Älterwerden wird immer seltener als normaler Vorgang angesehen, sondern als „krankhafte“ Schwäche, die mit den Mitteln der modernen Medizin korrigiert und kuriert werden muss. Da der Anspruch hoch und die Therapie umfassend ist, wird kaum noch auf Verläufe vertraut, bei denen es auch durch Abwarten zur Gesundung kommt.

Den Menschen in den industrialisierten Ländern geht es heute nicht besser als vor zwanzig Jahren

Natürlich tragen die Menschen selbst durch ihr Verhalten dazu bei, krank zu werden. Sie sind immer erreichbar, arbeiten nachts, schalten Radio oder Fernseher ein, um selbst abzuschalten. Sie setzen sich schädlichen Stoffen aus und vernichten ihre Lebensgrundlagen. Und schließlich ist der Mensch das einzige Lebewesen, dass sich freiwillig Schlaf entzieht. Das hat Folgen für die Gesundheit – nicht unbedingt sofort, aber langfristig.

Und dann treffen die Patienten auf Ärzte. Noch immer unterliegen viele Mediziner dem „Zwang zur Diagnose“ und machen weder sich noch ihren Patienten klar, dass diese Untersuchung oder jener Befund zu keinerlei Konsequenzen führen wird. Und die Patienten nehmen die scheinbare Entlastung durch Vorsorgeergebnisse zum Anlass, die Eigenverantwortlichkeit für ihre Gesundheit abzugeben. Dabei wird außer Acht gelassen, dass viele Tests und Screeningverfahren nicht mit einer verbesserten Überlebenschance oder einer gesteigerten Lebenserwartung einhergehen und dass es etliche Leiden gibt, die sich nicht mit den üblichen Messverfahren erfassen lassen.

Dieser Wandel der Heilkunde und der Patientenerwartungen greifen von Ulla Schmidt vorgestellten Plänen nicht auf. Dabei nähme ihr kaum jemand die finanziellen Einschnitte übel, wenn sie deutlich machte, wohin sie das marode Gesundheitssystem steuern will. Das Gesundheitswesen braucht eine Vision davon, was Gesundheit und Wohlbefinden bedeuten. Dann ergeben sich auch sozial- und gesundheitspolitische Perspektiven, die über den Rotstift hinausgehen. WERNER BARTENS