Aus der Reisighütte in die EU

aus Aldeacentenera REINER WANDLER

Kiko Monterroso scheint heute selbst kaum noch glauben zu können, was er da erzählt. „Meine Großeltern lebten in einer solchen Hütte“, sagt der 43-Jährige und zeigt auf einen riesigen Reisighaufen. Durch eine Lücke, ein Meter breit und eineinhalb Meter hoch, ist das Innere zu sehen: Lehmboden, in der Mitte eine Feuerstelle, ringsherum Reisigbündel, die eine Art Bank ergeben. „Hier hat die Familie gesessen und geschlafen“, erzählt Kiko Monterroso, „und in diesen Löchern haben sie ihr Hab und Gut aufbewahrt.“

Kiko Monterroso ist Bürgermeister des Dorfes Aldeacentenera in der spanischen Provinz Cáceres. Er erinnert sich, wie erst vor 25 Jahren die letzten aus Gestrüpp errichteten Schäferhütten aus dem Dorfbild verschwanden. Bis dahin waren sie überall in der Extremadura, dem armen Südwesten Spaniens, üblich. „Die Großgrundbesitzer teilten ihr Land in vier Teile auf. Ein Teil ruhte, ein Teil war untergepflügt, ein Teil wurde bepflanzt und ein Teil diente den Schafen als Weide.“ Alle Jahre zogen die Schäfer auf ein anderes Viertel weiter. Mit Frau und Kind, dem bisschen Hausgerät und den Schafen, die ebenfalls den Großgrundbesitzern – oder Señoritos, wie sie hier genannt werden – gehörten. „Feste Häuser zu errichten, das hätte zu viel Geld gekostet. Die Arbeiter verdienten das Minimum, um zu überleben. Sie waren fast schon Sklaven.“

Das Alte als Touristenattraktion

Es war Kiko Monterroso, der auf die Idee kam, am Rande des Dorfes die Hütten aufbauen zu lassen. Neben den Behausungen der Schäfer aus Gestrüpp sind auch modernere Hütten aus Stein zu sehen. Ein Stück weiter hinter einem künstlichen Teich liegt die Hauptsehenswürdigkeit. Der Nachbau einer keltischen Siedlung, wie sie an anderer Stelle auf der Gemarkung bei Ausgrabungen gefunden wurde. „Wir wollen damit Touristen anziehen“, sagt Monterroso. Das Geld für den Bau kam von der Europäischen Union. Die Löhne der Bauarbeiter wurden aus den von Brüssel bezuschussten Sozialfonds der Regionalregierung der Extremadura bezahlt. In den letzten Sommern fanden in den keltischen Häusern und den Schäferhütten Jugendcamps statt.

Jetzt soll der gesamte Komplex vermietet werden, Duschräume, WC-Anlagen sowie das in einem alten Schafstall untergebrachte Restaurant mit inbegriffen. „Wir haben schon mehrere Interessenten“, berichtet der Bürgermeister. Mehrere Unternehmen für ländlichen Tourismus sind darunter. Doch Kiko Monterrosos Vorliebe gilt einer Universität aus der 250 Kilometer entfernten Hauptstadt Madrid. Kurse für Doktoranden sollen hier fernab vom städtischen Chaos abgehalten werden.

„Ohne Europa wäre hier nur wenig vorwärts gegangen“, erklärt der Bürgermeister. Der Sozialist ist stolz auf die Union. Kohl, Mitterrand und vor allem der ehemalige sozialistische spanische Regierungschef Felipe González, das waren für den ehemaligen Kneipenwirt Monterroso „die großen Männer Europas“. Als Symbol der EU-Verbundenheit hat er im Rathaus und in der Caféteria des Gemeindezentrums jeweils eine Europa-Uhr aufhängen lassen. Das blaue Ziffernblatt mit gelben Sternen hat die Form der Grenzen der EU.

Der Hüttenkomplex ist nicht das Einzige, was Brüssel im Dorf bezahlte. Die Einrichtung des neuen modernen Gesundheitspostens in der Ortsmitte wurde ebenso von der Europäischen Union finanziert wie mehrere Landstraßen, ein Landeplatz für Leichtflugzeuge und ein Pferdestall mit Reitschule und Ausflugsangeboten. In einer mit EU-Geld errichteten Weberei stellen mit EU-Geld ausgebildete Frauen die traditionellen Schals und Tücher her. Sie werden in den umliegenden, mit EU-Geld herausgeputzten mittelalterlichen Städten an Touristen verkauft. Zwei große Gewächshauskomplexe vermietet die Gemeinde an Gärtner. Bis nach China exportieren sie die für die Extremadura so typischen Korkeichen. Der neue Gesundheitsposten wurde ebenfalls von der EU eingerichtet.

Überall steckt EU-Geld drin

„Direkt oder indirekt hat all dies die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt des Dorfes angekurbelt oder verbessert die Lebensqualität.“ Kiko Monterroso ist stolz auf das, was er dank Europa für sein Dorf erreicht hat. Wie viel Geld aus Brüssel ins Dorf kam, weiß er nicht, aber: „Bei allem, was die Provinz oder Regionalregierung finanziert hat, ist ein Teil aus den EU-Töpfen.“

Die Geschichte von Aldeacentenera ist die Geschichte der meisten Dörfer der Extremadura. Als die katholischen Spanier am Ende des Mittelalters die südlichen Ländereien von den Arabern zurückeroberten, fielen riesige Landflächen in die Hände der Kriegsherren. Die hatten nur eines damit im Sinn, die Schafzucht. Im Winter ließen sie ihre riesigen Herden vom Norden in den Süden treiben. Heute ziehen die Herden nicht mehr durch Spanien. Doch an den Besitzverhältnissen hat sich nichts geändert. Die einfache Dorfbevölkerung hat, wenn überhaupt, nur ein paar Quadratmeter Land. Genug um etwas Gemüse anzubauen und einige Hühner zu halten.

„Wir lebten hier in absoluter Armut“, erinnert sich Kiko Monterroso, der bereits als Zehnjähriger bei der Schafschur helfen musste. Sechs Peseten, der Preis von drei Stangenweißbroten, erhielt er dafür am Tag. Weder in Aldeacentenera noch in der nahe gelegenen Kleinstadt Trujillo gab es weiterführende Schulen. „Ich hatte Glück. Meine Eltern schickten mich mit elf Jahren in die Provinzhauptstadt Cáceres.“ Sein Vater hatte eine Kneipe und verdiente dadurch etwas mehr als die meisten im Dorf, die sich als Tagelöhner auf den Fincas verdingen mussten.

Wen wundert es da, dass ein Großteil der aktiven Bevölkerung die Flucht nach Madrid, in den industrialisierten Norden Spaniens oder ins Ausland antrat. Aldeacentenera verlor in den 50er- und 60er-Jahren über die Hälfte seiner einst 2.500 Einwohner. Bis heute hat sich weder das Dorf noch die Region von diesem Aderlass erholt.

„Die Extremadura ist für den Rest des Landes eine Art Selbstbedienungsmarkt“, schimpft der Bürgermeister. Nicht nur Arbeitskräfte, auch was in der Region produziert wurde geht in den Norden. Tomaten, Spargel, Wein, Olivenöl – alles wird aufgekauft und irgendwo anders weiterverarbeitet. Da genau dies Geld bringt, subventioniert die sozialistische Regionalregierung seit einigen Jahren die Ansiedlung von Lebensmittelindustrie. Der Aufdruck „Produkt aus der Extremadura “ wurde als Markenzeichen eingeführt. Auch für diese Programme fließen EU-Gelder. Und Aldeacentenera hat davon profitiert. Am oberen Ortsausgang produziert eine Fabrik 150 Tonnen des für die Region typischen Schafskäses pro Jahr. Verkauft wird er in ganz Europa und selbst in Delikatessengeschäften in den USA. Das Geld für die Erschließung des Baugeländes sowie ein Teil der Investitionen kam aus den Brüsseler Landwirtschaftsfonds.

Das meiste gehört den Señoritos

Für Kiko Monterroso geht diese Politik in die richtige Richtung und greift dennoch zu kurz. „Um unsere Probleme wirklich zu beheben, tut eines Not: die Landfrage muss geklärt werden.“ Es könne nicht angehen, dass alles Land einigen wenigen gehört. Gerade noch 30 Menschen arbeiten in der 10.800 Hektar großen Gemarkung Aldeacenteneras auf den Feldern. Für einen Hungerlohn von 800 Euro versorgen sie die Fincas der Señoritos, hüten deren Pferde, putzen das Haus und geben am Wochenende Koch, Butler und Jagdgehilfe ab. „Mit anderen Besitzverhältnissen könnten wir hier Genossenschaften für Viehzucht und Landwirtschaft aufbauen“, wiederholt Monterroso eine alte Forderung, an die sich 27 Jahre nach der Rückkehr Spaniens zur Demokratie und 16 Jahre nach dem EU-Eintritt niemand herangewagt hat.

Die meisten Sorgen bereiten dem Bürgermeister heute die bevorstehende Osterweiterung der EU. Ihm ist klar, dass dann weniger Geld nach Spanien und damit in die Extremadura fließen wird. „Dabei hätten wir noch einiges nötig.“ Vor allem im Bereich der Infrastruktur liege noch einiges im Argen. Aldeacentenera hat erst seit den 80er-Jahren einen Anschluss an die Trinkwasserversorgung. Zuvor schöpften die Bewohner aus Brunnen. Das Strom- und Telefonnetz ist noch immer veraltet. Von Breitband-Internet-Anschlüssen können sie im Dorf nur träumen.

„Klar, hier in Spanien gibt es reiche Regionen, aber keinen Finanzausgleich wie in Deutschland“, sagt Kiko Monterroso. Dabei wäre dies seiner Ansicht nach nur gerecht. Denn die Regionen, wie Madrid und der Norden des Landes, die gemessen am Bruttoinlandsprodukt weit über dem EU-Durchschnitt liegen, haben ihren Reichtum nicht zuletzt den Industriearbeitern zu verdanken, die einst aus dem armen Süden Spaniens übersiedelten. Die Vorstellung, dass deshalb dem Süden geholfen wird, entlockt dem Bürgermeister nur ein müdes Lächeln. „Das wird politisch nicht gewollt.“ Zwei der reichsten Regionen, Katalonien und das Baskenland, haben auch noch Sonderrechte, was die Einkünfte aus Steuern angeht. Das wird mit deren historischen und kulturellen Besonderheiten begründet. „Und wir haben als Besonderheit nur eines vorzuweisen“, sagt Kiko Monterroso. „Wir sind die ewigen Hungerleider.“