Gesellschaft im freien Fall

Von der Weigerung, sich mit der Oberflächlichkeit zu arrangieren: Michael Thalheimer definiert Schnitzlers „Liebelei“ am Thalia zum brutalen Psychogramm um, in dem die Protagonistin wieder einmal scheitert

von ANNETTE STIEKELE

Er tat wieder einmal weh. Wie schon so oft. Minutenlanges Schweigen, unvermittelte Entladung durch hysterische Schreie, Blicke und Gesten, die ins Leere gehen. Michael Thalheimer ist einer, der den Finger auf die klaffenden Wunden einer Gesellschaft im freien Fall legt und die degenerierte Struktur ihrer Individuen freilegt.

Üblicherweise skelettiert er hierfür bekannte Klassiker. Diesmal gab es am Thalia Theater Schnitzlers Liebelei, und auch das wurde nicht vom Blatt gespielt. Auf einem metallenen, viergeteilten Vorhang erscheint das grinsende Gesicht von Hans Löw, der den leichtlebigen Fritz spielt. Dazu traurige Geigen und die Stimme des Tindersticks-Sängers: This trouble everyday. Kein Ausweg, nirgends.

Die Gesichter der vier Protagonisten wechseln sich auf dem Video ab, bevor sie nacheinander die Bühne betreten. Felix Knopp pflegt als der Zyniker Theodor einen losen Lebenswandel und ein ebensolches Mundwerk. Nach dessen aufreibender weil vergeblicher Liebschaft mit einer verheirateten Frau will Theodor ihn zu einer erholsamen „Liebelei“ mit der Musikertochter Christine verbandeln. Doch die erweist sich als ungeeignet. Zu tief sind Maren Eggerts Blicke, mit denen sie unaufhörlich einen Punkt in der Ferne zu fixieren scheint. Einzig ihrer absoluten Liebe zu Fritz gewiss, ahnt sie bereits, dass er sie enttäuschen wird. Doch sie wird an ihrer Utopie festhalten, und wenn es sie das Leben kostet. Maren Eggert findet hier zu einer Klarheit und Ausdruckskraft, die man bei ihr noch nicht gesehen hat. Konzentriert und selbstgewiss schreit sie ihre Wut heraus.

Anders als Christine hat sich ihre Freundin Mizi mit der Beliebigkeit der Welt arrangiert. Sie nimmt die Männer wie sie kommen, und lässt sie genauso unbeeindruckt wieder ziehen. Fritzi Haberlandt gewinnt der Figur vor allem komische Seiten ab: Das Leben ist ein buntes Bonbonspiel, in dem es immer etwas zu lachen gibt.

Nichts als eitle Gestalten bevölkern die Bühne, die diesmal nicht Olaf Altmann, sondern Henrik Ahr als kühle Flucht aus Steinplatten entworfen hat. In dieser schaurigen Grabkammer haben die Figuren längst den Zugang zu ihren Gefühlen eingebüßt. Es gibt nur noch Oberflächen.

Einzig Christine will sich damit nicht zufrieden geben. In ihr entwirft Thalheimer – anders als Schnitzler – eine starke Frau, die es wagt, dem Leben mehr als nur die kurzzeitige Unterbrechung der Langeweile serieller Polygamie abzuringen, die unerschütterlich an ein wahrhaftiges Gefühl glaubt.

Mit diesen Ansprüchen muss sie an ihrer Umgebung scheitern. So entblößt sich im verzweifelten Liebesakt mit Fritz, keucht und schreit, greift nach seinem schlaffen Arm. Später wird er sie wie ein Tier an der Wand ihres Zuhauses anfallen, wo sie streng bewacht von ihrem Vater – Helmut Mooshammer – lebt. Abwechselnd erstarren Geliebter und Geliebte zur stummen Salzsäule. Doch es bleiben nur „Augenblicke“, die den „Duft von Ewigkeit“ versprühen. „Das ist die einzige, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört“, sagt Fritz. Da weiß er bereits, dass er fallen wird, sterben für eine andere Frau im Duell mit ihrem Gatten.

Thalheimer hat wie gewohnt den Text stark gekürzt, das Wienerische und die Orgien interessieren ihn nicht. Der bekennende Pessimist zeigt Schnitzlers Drama als brutales Psychogramm und beschwört verzweifelt einen Wert. Damit und mit seinem grandiosen Ensemble rettet er das Stück für eine atemberaubende Neudefinition. Denn wie schon in den beiden ersten Teilen seiner „Trilogie“, Emilia Galotti und Kabale und Liebe, stirbt auch hier die gebeutelte Hauptfigur nicht den schmählichen, von lausigen Männern herbeigeführten Bühnentod. Am Ende steht Maren Eggert da, allein mit ihrer eisernen Überzeugung und reckt die Hände gen Himmel. Ein starkes Bild.

nächste Vorstellungen: 4. sowie 6. November, 20 Uhr, Thalia