Auf der Autobahntoilette

Schnelle Bewegungen, diffuse Metaphern: „Autofahren in Deutschland“ heißt das aktuelle Stück der hoch gehandelten Autorin Ulrike Syha. Monika Gintersdorfer besorgte in Hamburg die Uraufführung

von TILL BRIEGLEB

Ein Thema liegt auf der Straße: Autofahren. Aber nicht das alte Thema, das mit der Organisation Todt, dem Wirtschaftswunder, Trampen und Fummeln auf dem Feldweg zu tun hat, sondern ein ganz neues Autofahren der Paranoia. Weiche Angst mit Außenskelett, die sich merkwürdig ziellos durch die Infrastrukturvenen bewegt, Halt macht an den Organen der Erinnerungen, den Tankstellen, Motels und Raststätten.

Die junge Autorin Ulrike Syha hat in ihrem Stück „Autofahren in Deutschland“, das jetzt vom Hamburger Thalia Theater uraufgeführt wurde, eine wahnhafte Atmosphäre rund um des Menschen liebsten Fluchthelfer gestrickt, in dem die schnelle Bewegung als eine diffuse Metapher für Identitätsverlust und Angst im Nacken entwickelt wird. Das typische Personal neudeutscher Jungdramatik – Kreativer, Finanzjongleur, Frauen und Proleten, hier ersatzweise Bulgaren – bewegt sich zwischen lauter Orten der Banalität, die es durch seine mitgebrachte Angst mit Schrecken segnet.

Gehetzt von Phantomen wie der Russenmafia, Steuerbeamten, dem FBI oder mysteriösen Anzugträgern und in der Begegnung mit der schimärenhaften Exfrau des Brokers Lorenz, die seit einem Unfall verschollen war, verlieren dieser und sein Freund Hugo langsam die Kontrolle über ihr Leben. Sie erschießen entweder Unbekannte auf der Autobahntoilette oder lassen eine im Keller eines Imbisses gefundene Weltkriegsbombe detonieren.

Beißfeste Realität gibt es in diesem Stück also nicht. Syha mixt ähnlich wie in ihrem ersten Stück „Kunstrasen“ (uraufgeführt 2001 in Leipzig) Elemente von Krimiplots, märchenhaften Überdrussängsten und Tarantinos Gewaltphilosophie zu einem kleinen Horrorladen der Projektionen ohne gesicherte Wirklichkeit. Nicht spannende Handlung oder eine zwingende Geschichte zeichnen diese Stücke aus, sondern das Optionspanorama für Regisseure, die die Zweifel der Autorin an der Wahrheit von Ruhe, Frieden und S-Klasse mit eigenen Theatermitteln ausmalen können.

In der Experimentierbühne des Thalia Theaters in der Gaußstraße, die sich langsam, aber sicher zu dem definitiven deutschen Theaterlabor mausert (viel Mut, viele Tops, viele Flops), hat Monika Gintersdorfer in dem Stück leider nur das Bunte und nicht das Verstörende gefunden. In zeichenhaftem Pop-Theater wird das Stück mehr schlecht als recht runtergespielt, ohne dass Beklemmung, Irrealität oder Doppeldeutigkeit je die Chance hätten, sich subtil zu entfalten.

Das kreischgrüne Lounge-Ambiente der Bühne mit ihrem pillenförmigen Riesenloch und das nette Airbag-Design der Phantomgestalten im Kontrast zum Schanze-Retro-Look der anderen Kostüme, alles entworfen von Christin Vahl, mag die Stimmung so vorgeprägt haben, dass Gintersdorfer nur noch oberflächliche Personenführung zulassen konnte. Verdammt zum Tempo durch die Metaphorik des Themas und gebannt von der totalen Kunstwelt, läuft die Metaphorik Syhas jedenfalls leer in lauter Aufregung.

Obwohl Gintersdorfer mit Peter Kurth und Susanne Wolff zwei der besten Darsteller des hervorragenden Thalia-Ensembles zur Verfügung hatte, spielen auch die beiden nur Text ohne Persönlichkeit. Gerade Wolff als die mysteriöse Exfrau Cleo, die mit zwei Pistolen aus dem Nichts erscheint, sich mal ohne erkennbaren Grund ein Messer zwischen die Beine schiebt und auch mit allen anderen Taten die paranoide Grundverfassung der Männer anheizt, erscheint so wenig rätselhaft wie Petra Gerster. Und Kurth, der ja nun ein ausgewiesener Spezialist für praktizierten Irrsinn ist, gibt dem cholerischen Alkoholismus des gemütsleeren Grafikers Hugo das Seditativ des braven Mannes.

Wo die Menschen nichts auspacken, packen Regisseure gerne Einfälle rein. So werden die Schauspieler immer wieder sinnlos zu Crashtest-Dummys auf Autositzen gemacht, die etwas schnell über Schienen gezogen werden, oder alle Regieanweisungen werden mitgesprochen. Beides ist weder erheiternd noch dramaturgisch nötig. Viel lieber hätte man was Vernünftiges über Menschen gelernt, die plötzlich mit der Frage konfrontiert sind: Was ist hier eigentlich noch wirklich?

Die nächste esoterische Paranoia-Fabel von Ulrike Syha kommt im Frühjahr in Tübingen raus und heißt „Nomaden“. Noch so ein Thema, das auf der Straße liegt. Vielleicht bewahrt ja die dortige Regisseurin Corinna Bethge wenigstens dieses Stück vor dem Verkehrstod durch rasende Bilder.