Was der Osten kostet

von SABINE HERRE

Deutschland in der Krise. Das Wirtschaftswachstum des Landes beträgt gerade mal ein Zehntel des Wachstums in Estland. Dafür ist die Arbeitslosenrate fast doppelt so hoch wie in Ungarn. Die Regierungen in Warschau und Lettland haben das Rentensystem ihres Landes grundlegend reformiert, Berlin hat dafür erst mal eine Kommission eingesetzt. Und nun auch noch die Osterweiterung! Zwei kleine Mittelmeerinseln und acht Staaten, in denen wie in der DDR die Planwirtschaft zusammengebrochen ist, streben an die Fördertröge der EU. Kein Wunder, dass die deutsche Frage in diesen Tagen lautet: Wer soll das bloß bezahlen? Eine Frage, die nicht unbeantwortet bleiben soll.

1. Was bringt den Deutschen die EU-Osterweiterung?

Ehrlich gesagt: Nicht viel. Die Grenzen nach Polen oder Tschechien sind seit mehr als zehn Jahren offen, ein Visum brauchen wir schon lange nicht mehr. Doch Raucher und Wodkaliebhaber können sich freuen, denn im Binnenmarkt wird es keine Zollkontrollen mehr geben.

2. Was kostet Hans Eichel die Erweiterung?

In diesem Fall können Sie ganz sicher sein: Es wird keine Steuererhöhung geben. Zwar tauchen in der Presse immer wieder hysterische Berichte auf, wonach sich die Zahlungen Deutschlands an die EU wegen der Osterweiterung um ein Viertel erhöhen werden, doch solche Schätzungen sind ganz einfach falsch. Bis zum Jahr 2006 gilt der beim Berliner EU-Gipfel 1999 verabschiedete EU-Haushalt, die Agenda 2000. Sie sieht gut 42 Milliarden für die Erweiterung vor, tatsächlich werden die zehn Neuen jedoch nur gut 40 Milliarden bekommen. Der Haushalt wird also eingehalten, und Hans Eichel muss für die Erweiterung bis 2006 nur die längst eingeplanten 2,5 Milliarden Euro zahlen. Das sind 31,25 Euro pro Bundesbürger.

Spannend wird es ab 2007, dann werden 25 EU-Staaten bei den Agrarbeihilfen um die gleiche Summe streiten, die vorher die 15 Altmitglieder unter sich verteilten. Doch auch hier wird unnötig dramatisiert. So hat das DIW errechnet, dass der Umfang des EU-Haushalts auch ohne jede weitere Reform der Agrar- und Strukturpolitik nicht weiter steigen, sondern um rund 10 Milliarden sinken wird. Denn zahlreiche bereits beschlossene Kürzungen machen sich nun bemerkbar.

3. Zahlt der Westen drauf, wenn er die armen Schlucker aus dem Osten aufnimmt?

Hierfür hat der deutsche Außenminister ein englisches Wort gebraucht: Er spricht von einer Win-Win-Situation, was so viel heißt wie: beide Seiten profitieren. Eindeutig im Vorteil ist bisher jedoch der Westen, oder besser: westliche Unternehmer. Mit der Öffnung der Grenzen bekamen sie neue Absatzmärkte und billige Arbeitskräfte. Die Exporte Deutschlands in die zehn Beitrittsländer wuchsen so zwischen 1992 und 2001 um 260 Prozent. Zugleich sicherte das mindestens 100.000 Arbeitsplätze. Ohne den Osthandel würde die deutsche Wirtschaft noch viel schlechter dastehen.

Allerdings: Mit der Osterweiterung wird sich hier nicht mehr viel ändern. Ökonomen errechnen, dass der Wachstumsgewinn durch die Erweiterung in der Alt-EU nur noch bei 0,2 Prozent, in Deutschland bei 0,5 Prozent liegt.

Der Osten hat vor allem von ausländischen Direktinvestitionen profitiert. In Ungarn lagen sie 1999 bei stolzen 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und trugen entscheidend zum Umbau der sowjetischen Produktionsstrukturen bei.

Eines fürchten west- wie osteuropäische Unternehmen gleichermaßen: die verschärfte Konkurrenz. Osteuropäer produzieren billigere, Westeuropäer bessere Produkte. Ganz so groß wie immer behauptet ist der Unterschied aber gar nicht. Im marktwirtschaftlichen Wettbewerb stehen Tschechien und Slowenien heute genauso gut da wie Spanien bei der Süderweiterung 1986.

Und so tut denn auch die Bundesregierung alles dafür, sich diese Konkurrenz noch etwas vom Leibe zu halten. Selbst tschechischen Transportunternehmen will sie keinen uneingeschränkten Zugang zum deutschen Markt ermöglichen.

4. Gibt es keine Verlierer?

Verlieren werden diejenigen, die auch jetzt schon schlecht dastehen. Nicht spezialisierte Bauunternehmen und gering Ausgebildete im Westen werden von ihren östlichen Konkurrenten verdrängt werden. Zu den Verlierern zählen außerdem die ostdeutschen Länder. Sie werden künftig viel weniger EU-Strukturhilfe erhalten, denn diese wird nun für Slowenien oder Litauen benötigt. Doch während Frankreichs Präsident sich vehement für die Agrarbeihilfen für seine Bauern einsetzt, ist die Bundesregierung bei der Strukturförderung für Ostdeutschland auffällig still. Das hat einen Grund: Die Programme müssen mit nationalen Mitteln kofinanziert werden. Spart Brüssel, spart auch Berlin.

5. Nehmen billige Arbeitsmigranten aus dem Osten den Westeuropäern Arbeitsplätze weg?

Eine Migrantenwelle billiger Arbeitskräfte wird es nicht geben. Inzwischen gehen Wissenschaftler davon aus, dass nur 220.000 Ostmigranten pro Jahr nach Deutschland kommen. Auch die Beispiele Spanien und Portugal zeigen, dass viele „Gastarbeiter“ nach der Süderweiterung in ihre Heimat zurückkehrten, da sie auf den wirtschaftlichen Aufschwung dort setzten. Ungeachtet all dieser Tatsachen hat die Bundesregierung für Arbeitskräfte aus dem Osten trotz Ansiedlungsfreizügigkeit eine siebenjährige Übergangsfrist durchgesetzt. Was nicht nur das Ansehen Deutschlands bei den Nachbarn verschlechterte, sondern auch dazu führt, dass viele gut ausgebildete Arbeitskräfte etwa nach Großbritannien ausweichen werden, wo es gar keine Übergangsfrist gibt.

6. Wird der deutsche Markt nun von billigen Ostprodukten überschwemmt?

Vor allem französische Bauern und Globalisierungsgegner warnen davor, dass große Lebensmittelkonzerne großflächig Land im Osten kaufen und den EU-Markt mit billigen Produkten überschwemmen werden. Und auch Brüssel muss zugestehen, dass in vielen Beitrittsstaaten die Behörden zur Kontrolle der EU-Verbraucherschutzregeln noch nicht funktionieren. Andererseits ist der WWF der Ansicht, dass die GAP, die Landwirtschaftspolitik der EU, die Biodiversität im Osten zerstöre. Dort würden viele Betriebe mit weniger Pestiziden wirtschaften als im Westen. Helfen kann nur eine Reform der GAP – in West und Ost. Die Massenproduktion muss weniger, die Pflege der Landschaft mehr gefördert werden.

7. Der Osten kann doch die bei uns geltenden Umweltnormen gar nicht einhalten?

Das stimmt. Vor allem beim Trinkwasser, bei Mülldeponien und Recycling haben viele Beitrittskandidaten Übergangsfristen ausgehandelt. Sie müssen die EU-Normen erst zwischen 2007 und 2015 erfüllen. Insgesamt wird die Umsetzung der Umweltvorschriften die zehn Kandidaten die ungeheure Summe von rund 120 Milliarden Euro kosten. Die Friedrich-Ebert-Stiftung stellt fest: „Nüchtern betrachtet ist eine Angleichung an die aktuell geltenden Umweltstandards der EU zumindest in näherer Zukunft kaum möglich.“ Andererseits aber stehen 24 Prozent der Slowakei unter Naturschutz. Und irgendwann einmal werden die Osteuropäer von den geforderten Investitionen in die Umwelt profitieren können. Eine Studie der EU-Kommission schätzt, dass sich zum Beispiel durch bessere Luftqualität in Polen bis zu 14.000 frühzeitige Todesfälle pro Jahr verhindern lassen.

8. Wird Europa die USA als stärkste Wirtschaftsmacht ablösen?

Zwar leben im Wirtschaftsraum EU schon heute rund 90 Millionen Bürger mehr als in den USA (374:284), was aber nicht heißt, dass auch unser Bruttoinlandsprodukt höher ist. Es liegt bei 8,5 Billionen Euro, das der USA aber bei 10 Billionen. Die zehn Neumitglieder mit ihren 75 Millionen Einwohnern helfen Europa hier nicht: Ihr BIP liegt gerade mal bei 340 Milliarden Euro. Spanien allein kommt auf 540 Milliarden.

Einige Ökonomen sehen die globale Bedeutung der Osterweiterung daher eher im verstärkten Reformdruck, den die wachsende Konkurrenz zwischen Ost und West auf alle europäischen Unternehmen haben wird. Andere Wirtschaftswissenschaftler sind vorsichtiger: Wenn die gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Ostens tatsächlich so gering ist, wird auch der Wettbewerb kaum oder nur in einigen wenigen Branchen verschärft werden. Die USA müssen auf einen ebenbürtigen Partner also noch etwas warten.

9. Wird der Euro jetzt schwach?

Die neuen Mitgliedstaaten haben in den letzen Jahren ein deutlich höheres Wirtschaftswachstum als die alten EU-Staaten erzielt. Einige osteuropäische Währungen haben – gerade gegenüber dem Euro – einen Wertzuwachs verzeichnet. Und außerdem: Die zehn Neuen treten zwar 2004 der EU bei, den Euro werden sie aber frühestens 2007/8 einführen. Denn zuvor müssen sie wie alle Eurostaaten die Konvergenzkriterien erfüllen: niedrige Inflationsraten und Zinsen, stabile Wechselkurse und solide Staatsfinanzen.

10. Wann kommt die nächste Erweiterung?

Voraussichtlich 2007 werden Rumänien und Bulgarien, die beiden osteuropäischen Nachzügler, der EU beitreten. Sicher ist auch, dass in den nächsten Jahren die Nachfolgestaaten Jugoslawiens Aufnahmeanträge stellen werden. Verhandlungen kann Brüssel ihnen kaum verweigern, schließlich ist bereits einer dieser Staaten, Slowenien, unter den jetzigen Beitrittsstaaten.

Auch mit der Türkei wird die EU früher oder später Verhandlungen führen, der Beitritt des dann wohl größten EU-Staates wird jedoch kaum vor 2015 erfolgen. Damit dürfte die Europäische Union an die Grenzen ihrer finanziellen und politischen Integrationsmöglichkeiten gestoßen sein. Die Ukraine, Weißrussland und natürlich auch Russland – sie können nur auf eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit hoffen.