Belgiens letztes Genie

In königlichen Gemächern: Wie der Künstler Jan Fabre einem Fürsten immer ähnlicher wird

von FLORIAN MALZACHER

Der goldene Mann steht auf der äußersten Kante des Museumsdachs, steht und misst die vorüberziehenden Wolken, mit dem heiligen Ernst, für den seine goldene Farbe steht. Das Messgerät ist anachronistisch, eine Art Lineal, die Haltung ist es auch: aufrecht, dem Himmel entgegengereckt. Keine Prometheusfaust geballt, ganz ruhig, einer der glaubt, die Wolken vermessen zu können, das Flüchtige zu halten.

Es ist die Haltung eines Künstlers als Bindeglied zwischen dem Profanen und dem Himmlischen, zwischen Menschen und Göttern. Die Haltung eines, der keinen Zweifel hat, dass er ein Berufener ist. Diese Skulptur passt zu ihrem Schöpfer: Mit 19 brachte er eine Tafel an am Haus seiner Eltern in Antwerpen: Hier lebt und arbeitet Jan Fabre. Performances waren das, natürlich, aber in ihrer spielerischen Ironie ernst – wie alle seine Arbeiten.

Dem Wunsch nach Unsterblichkeit scheint der belgische Künstler in diesem Herbst ein Stück näher gekommen zu sein: Sein jüngster Theaterabend „Parrots and Guinea Pigs“ ist stets restlos ausverkauft und tourt nun durch Europa. Das Stedelijk Museum voor Actuele Kunst (S.M.A.K.) in Gent, wo auch der Wolkenvermesser steht, zeigt eine große Retrospektive, wie sie einem Vierundvierzigjährigen selten gewidmet wird – und vor allem: Nach über hundert Jahren ist Jan Fabre der erste Künstler seit Rodin, der eingeladen wurde, eine ständige Arbeit zu schaffen für das königliche Palais in Brüssel.

Im großen Spiegelsaal, dessen Decke zwischen der Stuckrahmung seit 1909 weiß geblieben war, schuf er der Königin einen „Heaven of Delight“: ein Mosaik aus fast anderthalb Millionen Skarabäuspanzern. Eine unglaublich schillernde Landschaft, die je nach Blickwinkel und Lichteinfall die Farben wechselt von sattem Blau über Türkis und orangeroten Einsprengseln bis hin zu einem knalligen Grasgrün.

Fabre mag größte Gesten. Aber dass diese Gesten so ausgestellt sind, dass man zugleich darüber lachen muss, das macht die Qualität der guten Arbeiten Fabres aus. Einer der Kronleuchter ist ebenfalls über und über besetzt mit den Insektenpanzern, als wollten die Viecher den Palast langsam erobern. Und der vermutlich erhabenste Deckenhimmel der Moderne und Nachmoderne ist zugleich ein kindliches Spiel, unter dem man auf und abrennen möchte, um die Farben einzuholen, die über den Kopf hinwegrauschen.

Knapp dreißig Helfer haben drei Monate lang daran gearbeitet, vier Jahre dauerte die Phase des Vorbereitens und Käferleichensammelns – die meisten stammen aus asiatischen Restaurants, wo die Tiere gern gegessen werden. Nach Fabres Anweisung sind vereinzelt Motive eingewoben, Globen, Eulen, Engel, doch das eigentliche Bild entsteht in der Bewegung des Auges und des Lichts.

Man kann von fast jeder Arbeit Fabres aus sein Werk aufdröseln, denn Motive und Gesten kehren wieder in Zeichnungen, Skulpturen, Filmen, Oper, Tanz und Theater. Käfer beispielsweise durchziehen sein Werk. Der Skarabäus ist für Fabre ein zentrales Bild – er symbolisiert den Künstler, der in einer immer größer werdenden Kugel sein Gedächtnis, seinen Lebensweg vor sich herrollt. Auch der Panzer, ob nun der eines Insekts oder der eines Ritters, taucht in seinem Werk wieder und wieder auf.

Auch die Tierkostüme, die seine Performer in „Parrots and Guinea Pigs“, der jüngsten Theaterarbeit Fabres, tragen, sind solche Panzer und Verkleidungen. Die Tiere verwandeln sich in Menschen und wieder zurück, die Spieler schlüpfen in und aus den riesigen Fellen, wechseln und verwechseln die Rollen und Machtverhältnisse, bis eine Unterscheidung unmöglich ist. Fabre inszeniert einen wilden, doch strukturierten Bilderreigen, der von rührenden Tierszenen bis zum Horrorkabinett wie von Marquis de Sade reicht: Vergewaltigung, Machtspiele, Gewalt.

Eine aggressive, verstörende Tour de Force – für das Publikum, vor allem aber für die Performer. Denn was der bildende Künstler mit sich selbst ausmachen muss, malt der Regisseur mit den Darstellern. Immer wieder hat Fabre seine Tänzer und Schauspieler als „Krieger der Schönheit“ bezeichnet, ihre Selbstaufgabe zugunsten des Werks bewusst thematisiert. Nirgends wird so deutlich, warum Fabres Künstlerbild zuweilen so problematisch und überheblich ist: ein postmodern recycelter Geniekult.

In einer Szene von „Parrots and Guinea Pigs“ fordern drei Männer in mausgrauen Anzügen wieder und wieder von einem tollpatschigen gelben Riesenvogel mit Stummelflügeln, dass er springen solle, springen und fliegen. „Jump and fly“, locken sie und drohen sie. Bis der Vogel endlich springt, fällt und nicht mehr aufsteht. Und die Männer nach dem nächsten rufen.

Wie man hört, soll die Fluktuation unter den Tänzern bei den Proben zu dieser Arbeit groß gewesen sein.

„Gaude succurrere vitae“, Retrospektive im S.M.A.K., Gent, bis 2. Februar 2003. „Parrots and Guinea Pigs“ kommt nach Frankfurt/Main, Künstlerhaus Mousonturm, im Februar