der visionär
: Tim Berners-Lee

Wissensnetze

Nach all den Jahren der Technikeuphorie gibt es wenige, denen man das Wort „Vision“ noch abkauft. Tim Berners-Lee (47) ist einer von ihnen. Wer den Schöpfer der World-Wide-Web-Technologie nur von Bildern kennt, ist überrascht von der Energie, die der blonde Engländer versprühen kann. Kaum steht er hinter dem Rednerpult, überschüttet er seine Zuhörer mit einem atemberaubenden Wortstrom, verschluckt vor lauter Begeisterung Silben, wechselt in kabarettistische Tonlagen, um dann energisch zu fordern: „Ich will, dass Sie da rausgehen und kämpfen: Das Web muss universell sein.“

Das sitzt. Als ihn eine Fotografin später beim Zuhören aufnimmt, zückt er seine Kamera und schießt mit spitzbübischem Gesicht zurück. Aber er ist kein Exzentriker. Nach einem Physikstudium in Oxford arbeitete er Ende der Siebzigerjahre für britische Computerfirmen als Softwareentwickler. Während eines sechsmonatigen Beraterjobs am europäischen Kernforschungszentrum Cern schrieb er 1980 das Programm „Enquire“, das er einmal als „die Keimzelle der Idee des World Wide Web“ bezeichnet hat. Es verknüpft Daten von Karteikarten und macht sie aufrufbar – um sich Namen, Projekte und Rechner besser merken zu können. Enquire wurde nie veröffentlicht, war aber die konzeptionelle Basis für das Projekt, das Berners-Lee 1989 am Cern – an dem er inzwischen angestellt war – beantragte: ein „World Wide Web“ von Informationen. Es ernthielt die Vision, die er bis heute verfolgt: durch Vernetzung und Dezentralisierung das Wissen aus den Fesseln von Hierarchien zu befreien und damit auch den gesellschaftlichen Fortschritt anzuschieben.

Angestoßen dazu habe ihn, als er noch zur Schule ging, ein Gespräch über Hirnforschung mit seinem Vater, sagt Berners-Lee. Der Vater arbeitete als Mathematiker in Manchester und brütete gerade über einer Rede zum Thema, ob Rechnern Intuition beigebracht werden könne – mindestens nötig wäre dafür zweifellos die Fähigkeit, beliebige Informationen miteinander zu verknüpfen.

1991 veröffentlichte Berners-Lee dann das Programm „World Wide Web“ im Internet, das damals noch weitgehend mit Befehlszeilen angesteuert werden musste. Der Verzicht auf Patentierung und Kommerzialisierung sorgte für eine rasche Verbreitung und Weiterentwicklung des Konzepts. Zwei Jahre später waren die drei wesentlichen Bausteine, die Verlinkung, das Übertragungprotokoll „http“ und die Seitenbeschreibungssprache „HTML“ ausgereift. 1994 gründete Berners-Lee das World Wide Web Consortium (W3C) am MIT in Cambridge, Massachusetts, dessen Direktor er seitdem ist. Das W3C koordiniert die Entwicklung und Kodifizierung neuer Internetstandards. Ziel seiner gegenwärtigen Arbeit ist der Übergang zum „semantischen“ Web, wie Berners-Lee es nennt. Dank neuer Standards wie XML soll künftig auch der Kontext von Informationen mit kodiert werden, sodass die Suchmaschinen der Zukunft – ähnlich wie der Mensch – Bedeutungsunterschiede erkennen können, vor denen sie heute noch kapitulieren.

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