Verbotenes macht scharf

Von den Fernsehfrüchten der Kindheit: Warum es gemein ist, wenn die eine Sendung zu gucken erlaubt ist, die andere, bessere, aber nicht. Erinnerungen an Inge Meysel, Butterkuchen, den Hasen Cäsar und Fury

von BETTINA GAUS

In meinen ersten Lebensjahren war ein Fernseher so etwas Ähnliches wie eine Hollywoodschaukel: eigentlich ganz toll, und beides konnte man sich heimlich wünschen – aber gleichzeitig war es irgendwie igitt und passte nicht zu uns. Begründen ließ sich das nicht. Im Bildungsbürgertum der frühen Sechzigerjahre war das einfach so. Für ein Kind, das diesen Begriff nicht kannte, ließ sich das Ungehörige übrigens ganz leicht daran erkennen, dass die Freunde der Eltern ebenfalls keine Hollywoodschaukeln oder Fernseher besaßen.

Dabei hatte es Fernsehen schon immer gegeben, jedenfalls ganz lange bevor ich auf die Welt kam. Mindestens vier Jahre. Deshalb hatten auch meine Großeltern, wenn auch leider keine Hollywoodschaukeln, so doch wenigstens Fernseher. Das war in mehrfacher Hinsicht ein Segen. Zum einen für die Großeltern selbst, denn „für alte Leute ist es schon eine sehr schöne Erfindung“, wie mein Vater zu sagen pflegte. Und zum anderen für mich, denn ich fand es selbst für jüngere Leute eine sehr schöne Erfindung.

Meine verwitwete Großmutter mütterlicherseits und meine Großeltern väterlicherseits hatten alle ihre Vor- und Nachteile. Die Großmutter wohnte nur ungefähr dreißig Kilometer weit weg, und wir besuchten sie häufig. Das bedeutete, dass ich auch ziemlich oft die Kinderstunde sehen konnte. Die gab es zweimal in der Woche, und das Einzige, woran ich mich aus diesen ersten Jahren erinnern kann, ist das Gesicht von Klaus Havenstein.

Etwas anderes als die Kinderstunde durfte ich bei meiner großbürgerlichen Großmutter nämlich nicht sehen. Bei den kleinbürgerlichen Großeltern schon. Die lebten am anderen Ende von Deutschland, und deshalb waren wir nur in den Ferien zusammen. Dafür ließen sie mich Sendungen anschauen, die ich nirgendwo sonst hätte gucken dürfen. Vorausgesetzt, meine Eltern hatten es nicht ausdrücklich verboten.

Ausdrücklich verboten war zum Beispiel der „Forellenhof“. Diese Familienserie – heitere Idylle im Schwarzwaldhotel – fanden meine Eltern unerträglich spießig. Meinen Großeltern hat sie gefallen, aber da war nun leider nichts zu machen. Gottlob hatten die Eltern ihre Augen jedoch nicht überall. Die „Firma Hesselbach“ stand auf dem Index, aber die „Unverbesserlichen“ mit der unendlich tapferen Fernsehmutter Inge Meysel war ihrem scharfen Auge entgangen. Eine wunderbare Sendung! Bei Wiederholungen wird mir noch heute warm ums Herz, und es riecht sofort nach Butterkuchen. Ich schaue distanzlos, glücklich – der Inhalt ist mir so was von egal.

Natürlich habe ich auch die „Augsburger Puppenkiste“ geliebt und den „Hasen Cäsar“ und „Flipper“ und „Daktari“ und „Fury“. Unterschiedslos übrigens. Mag sein, dass sich der Blick für Qualität subkutan bildet. Für kindliche Zuschauer ist das keine Kategorie. Aber ich liebte Kindersendungen ungefähr so, wie ich eben auch Weihnachtsbäume und Sommerferien liebte. Zufrieden und gesättigt. Ohne den verruchten Zauber des Unerlaubten.

Für die tiefsten Freuden des kindlichen Fernsehens gilt jedoch eine uralte Erkenntnis, die sich ursprünglich auf andere Lebensbereiche bezogen hat: Was verboten ist, das macht uns grade scharf. Glücklicherweise war dieser Lehrsatz meinen Eltern nicht fremd, und sie wollten mir ja ebenfalls gerne Freude bereiten. Wahrscheinlich liegt es daran, dass meine prägnanteste Erinnerung an das Fernsehen meiner Kindheit die Erinnerung an eine Serie leuchtender, wunderbarer Ausnahmen ist.

Nicht nur starteten 1965 die Serien „Forellenhof“ und „Die Unverbesserlichen“ – 1965 trat auch mein Vater eine neue Arbeitsstelle an. Beim Fernsehen. Was bedeutete, dass wir diesen herrlichen Kasten nun im Hause haben mussten. Wir hatten übrigens sogar deren zwei. Aber das war schon bald ziemlich gleichgültig, denn das Fernsehen hatte mittlerweile auch das Bildungsbürgertum erreicht.

Ich war damals acht. Die Frage war nun nicht mehr das Ob, sondern nur noch das Wie. So wie manche Leute heute behaupten, nur Arte zu gucken, so behaupteten damals manche, den Fernseher nur wegen der „Tagesschau“ angeschafft zu haben.

Das taten meine Eltern nicht. Ich durfte „Salto mortale“ schauen, die Geschichte einer Zirkusfamilie. Und bei Kulenkampff verfolgen, wer gewinnen wird. Und sehen, was im „Komödienstadel“ aus dem verkauften Großvater wurde. Lauter Sendungen also, die nach der üblichen Zubettgehzeit begannen und schon allein deshalb begehrenswert waren: ein kleines Fenster in die Welt der Erwachsenen. Anderes war mir weiterhin verwehrt – und manche Kriterien verstehe ich bis heute nicht. Was soll an „Bonanza“ denn so schlimm sein? Alle durften es gucken. Bloß ich nicht. Gemein.

Ein Tagebucheintrag, 1967: „Immer sagt sie, sie hätte so großes Vertrauen zu mir, und dann traut sie mir noch nicht mal zu, zu beurteilen, ob ich einen Film sehen darf oder nicht. Ich bin doch nicht mehr sechs!!“ Und heute? Hat sich irgendetwas geändert? Ja, die Vielfalt der Programme. Es steht nicht mehr so eindeutig fest, was man gesehen haben muss. Außerdem ist der Videorekorder erfunden worden. Der erlaubt es immerhin, die Freizeit unabhängig von Sendezeiten zu gestalten.

Aber sonst? Alles wie gehabt. Alle haben „Das Schweigen der Lämmer“ schon auf Video gesehen. Nur meine vierzehnjährige Tochter nicht. Weil ich ihr das verweigere. Gemeinerweise. Der immer gleiche Ablauf bestimmter Generationenkonflikte legt die Vermutung nahe, dass die Kinderstunde ein über alle Altersgrenzen hinweg mögliches Gesprächsthema sein könnte. Was für ein Irrtum!

Über viele Dinge kann man mit Leuten reden, die nicht derselben Generation angehören – manchmal über Politik und immer über die zeitlosen Bücher von Astrid Lindgren. Aber Kinderfernsehen? Vergessen Sie’s. Als die „Sesamstraße“ in der Bundesrepublik anlief, war ich ein Teenager. Zwischen mir und denjenigen, die mit dem Krümelmonster aufgewachsen sind, gibt es keine Brücke. Die sollen sich über ihre Rente gefälligst allein den Kopf zerbrechen. Wenn ihnen keine Lösung einfällt, ist das kein Wunder. Ich jedenfalls habe das Zählen bis zehn nicht aus dem Fernseher gelernt.

BETTINA GAUS, Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz in Berlin