Leiden an der Volksfront

Fristet die Kultur im Fernsehen eine Kümmerexistenz? Braucht es mehr „Aspekte“, „Kulturzeit“ und „Literarisches Quartett“? Bekenntnisse eines leidenschaftlichen Feuilletonlesers

von KURT SCHEEL

Eigentlich habe ich nichts gegen Kultur, aber was hat sie im Fernsehen verloren? Ich habe auch nichts gegen Kultursendungen im Fernsehen – bloß schaue ich sie mir nicht an. Mit „Kultursendungen“ meine ich Berichte über so Sachen, die das Feuilleton interessieren – Bücher, Literatur, Theater, Oper, bildende Kunst, Genforschung, Auschwitzkeulenschlussstrichdebatte – und auch das medieninnovative Zeug, das Alexander Kluge macht. Nichts dagegen, aber ich brauche es nicht.

Ich lese ja Bücher und Feuilletons, da steht das alles viel genauer drin, als es in den Dreiminutenclips gezeigt werden kann. Die meisten Kulturarbeiter sind jedoch der Ansicht, es wäre gut, wenn es mehr Kultursendungen gäbe. Sie sagen das, vermute ich, nicht als selbst an diesen Sendungen Interessierte, sondern als Volkspädagogen: Kultursendungen sind gut nicht für unsereinen, sondern für die kulturlosen Massen. (Dass unsereiner bei diesen Sendungen sein Brot oder Zubrot verdient oder für sein Produkt – sein Buch, seine Zeitung, seine Inszenierung, seine Meinung – Reklame macht, ist in Ordnung, sollte aber nicht mit der Aura des Philantropen versehen werden.)

Mein Desinteresse an TV-Kultursendungen findet auf hohem Niveau statt, es ist ein privilegiertes; wobei dieses Privileg leicht zu haben ist, man muss ja nur eine Tageszeitung lesen, um kulturell auf dem Laufenden zu sein. Wenn ich jetzt noch bedenke, dass es Wochenzeitungen und Magazine gibt, Radiosendungen und den Internetdienst perlentaucher.de, dann kann ich nicht feststellen, in einer kulturfeuilletonistischen Mangelwirtschaft zu leben.

Trotzdem wünschen sich die meisten Kulturbeflissenen fast reflexhaft mehr Kultursendungen. Und das hängt meinem Eindruck nach damit zusammen, dass wir bis heute das Fernsehen als solches nicht mögen – und die Fernsehzuschauer auch nicht. Dass wir das Fernsehen hassen oder verachten, ist für die meisten von uns eine Selbstverständlichkeit; wir empfinden es fast als Ausweis unserer Kulturüberlegenheit.

Dass wir die normalen Fernsehgucker hassen oder verachten, sagen wir nicht so laut, wir sind ja Volksfreunde und würden die Massen gerne zu uns Proust-Lesern emporziehen – aber die Säcke glotzen weiterhin ihren Müll und nie „Kulturzeit“, allenfalls das „Literarische Quartett“, weil Reich-Ranicki eben so etwas wie der Stefan Raab der Bücher- statt der Pulleralarmwelt war.

Und das hatte ja mit Kultur im wirklichen Sinne nichts zu tun, und deshalb hassten und verachteten und fürchteten wir das „Quartett“ gleich doppelt. Ich könnte jetzt zu dem beliebten Schluss kommen, dass das Fernsehen „als Medium“ eben nicht kulturtauglich ist; das halte ich aber für Quatsch. Unser Problem ist das Publikum: Es guckt, was es will, und fast nie das, was wir wollen.

Machen wir die Rechnung auf: Als Verkabelter hat man so etwa dreißig Programme, und 95 Prozent des Angebots sind zweifelsfrei keine Kultursendungen. Stellen wir uns vor, es gäbe 95 Prozent Kultursendungen und fünf Prozent die normale Fernsehscheiße (eine grauenhafte Vorstellung): Glauben Sie wirklich, dass die große Mehrheit dann unseren Kulturkram kieken würde?

Ich glaube das nicht, und ich, siehe oben, würde es auch nicht tun. Mir fällt dazu das Beispiel Film ein: Auch in der Geschichte des Films hat unsereiner den kleinen Ladenmädchen ihre billigen Liebesschmonzetten ausreden wollen und es für eine gute Idee gehalten, mehr „Faust“- und Shakespeare-Verfilmungen zu fordern. Genützt hat es glücklicherweise nichts: Das Pack macht, was es will, und so ist es eben auch beim Fernsehen.

Wir sollten deshalb mutig dem Entsetzlichen ins Auge blicken und anerkennen, dass spätestens mit dem Fernsehen die Massen ihr eigenes Medium bekommen haben: von Hinz für Kunz. Das ist quälend, denn alle unsere Vorstellungen von Deutungshoheit verfangen innerhalb dieses Medium nicht mehr (uns bleibt ja das Zeit-Feuilleton!).

Seien wir daher wenigstens gute Verlierer, hören wir mit dem ressentimentgeladenen Gerede übers Fernsehen (Botho Strauß!) auf und dem ewigen Gejammer darüber, dass es so viele niveaulose Titten- und Comedy- und Stadlsendungen gibt – freuen wir uns stattdessen über diese superbe Peter-Handke-Hagiografie (… wollte ich jetzt eigentlich hämisch schreiben. Aber, oh Wunder, „Der schwermütige Spieler“, den ich mir aus reiner Bosheit für diesen Artikel angesehen habe, ist tatsächlich eine völlig unpeinliche Kultursendung, der sechzigjährige Handke sieht so gut aus wie nie zuvor und sagt fast nur kluge, wahrhaftige, anrührende Sätze – den Serbienunfug lassen wir mal außen vor –, und ich hatte gleich Lust, mal wieder was von ihm zu lesen).

Die Massen sind mündig, jedenfalls im juristischen Sinn, wir haben keine Möglichkeit, sie nachhaltig an ihrem falschen und frevelhaften Tun zu hindern. Der Volkskommissar für Kultur, der in Ihnen (ja, sogar in Ihnen) steckt, findet das naturgemäß schrecklich; aber das Mündel ist nun erwachsen, und auch wenn Sie zweifellos Recht haben mit Ihrer Warnung vor „Come 2gether“: Es ist zu spät.

Selbst Hochkulturträger wollen doch deshalb nicht ernsthaft die Demokratie abschaffen und eine Erziehungsdiktatur errichten!

KURT SCHEEL, Jahrgang 1948, Herausgeber des Merkur und Kinobuchautor („Ich und John Wayne“), sieht viel fern