Geschichten. Ohne Geschichte

Amnesie durch Alkohol: Das Korsakow-Syndrom befällt immer mehr und immer jüngere Menschen

Der russische Neurologe Korsakow hat vor mehr als 120 Jahren erstmals eine detaillierte Beschreibung der bei Alkoholikern häufig auftretenden Amnesie, des Gedächtnisschwunds, vorgenommen. Neue Inhalte können von diesen Menschen weder gespeichert noch wiedergegeben, alte aus der Vergangenheit nur noch bedingt wiedererkannt oder abgerufen werden. Zudem wird der Verlust des Gedächtnisses mit frei erfundenen Geschichten überdeckt.

Ein jahrelanger, übermäßiger Konsum von Alkohol lässt das menschliche Gehirn schrumpfen und zerstört das Kurzzeitgedächtnis. Ein korsakowkranker Alkoholiker ist irgendwann unfähig, Dinge neu zu erlernen. Zudem wird der Zugang zum Langzeitgedächtnis blockiert. „Man verfügt zwar noch über Informationen“, beschreibt es der Neurologe und Psychiater Dr. Jan Wojnar von „pflegen und wohnen“ in Hamburg, „und irgendwie weiß man, dass man es weiß. Aber man ist zumeist unfähig, sie abzurufen.“

Bei einem Korsakow-Patienten bewirken das Auslöschen des Kurzzeitgedächtnisses und die blockierten Erinnerungen zunächst eine zeitliche Desorientierung, bald auch die Störung der örtlichen und der situativen Orientierung. Wer nicht mehr weiß, wo er ist und in welcher Zeit er sich befindet, der ist auch nicht mehr in der Lage, Situationen zu verstehen.

An Korsakow erkrankte Menschen interpretieren deshalb Bilder, die ihnen im Kopf verblieben, verknüpfen Vergangenes mit Gegenwärtigem und erzählen fast nur Geschichten, die mit der Realität nichts zu tun haben. „Konfabulationen“ werden in der Medizin solche Erzählungen über vermeintlich erlebte Vorgänge genannt, die auf Erinnerungstäuschungen beruhen. Die Gefahr, an Korsakow zu erkranken, beginnt bei Männern beim Konsum von mehr als 60 Gramm Alkohol pro Tag (entsprechend etwa 0,7 Liter Wein), bei Frauen bereits bei 20 g oder einem täglichen Glas Wein, so Neurologe Dr. Wojnar.

Menschen mit leichteren Anzeichen eines Korsakow-Syndroms kann durchaus geholfen werden. Strikte Abstinenz ist eine Voraussetzung, intensives Training des nachlassenden Gedächtnisses eine andere. Erkrankte im fortgeschrittenen Stadium müssen intensiv gepflegt und betreut werden und warten oftmals nur desorientiert auf den Tod.

Viele leben und sterben damit aber auch weitgehend unerkannt. Bisher sind vor allem mittelalte Männer erkrankt. Doch die Tendenz als Konsequenz eines veränderten Umgangs mit Alkohol ist deutlich: Das Alter sinkt, und immer mehr Frauen werden künftig betroffen sein. Peter Brandhorst