Die Theatermacherin und der Wal

„Eigentlich suche ich mir die Stoffe nicht aus, sondern sie suchen mich“: Ob „Lilith“ oder „Moby Dick“ – die Inszenierungen der ehemaligen Orphtheater-Regisseurin Susanne Truckenbrodt bekommen ihren letzten Schliff erst im freien Spiel. Ein Porträt

„Gutes Theater verändert sich stets, jede Vorstellung ist einmalig“

von RICHARD RABENSAAT

„Wal! Wal! – Da – da bläst er! – Da bläst er!“, schreit Ahab in Herman Melvilles Roman „Moby Dick“, als er endlich seinen Peiniger erblickt. Dann beginnt ein dreitägiger Kampf. Am Schluss reißt der Pottwal den unseligen Kapitän mit in die Tiefe, nachdem dieser von der um seinen Hals geschlungenen Fangleine erdrosselt worden war.

Nicht der Kampf Ahabs war es jedoch, der die 39-jährige Regisseurin Susanne Truckenbrodt bei ihrer Inszenierung von „Moby Dick“ faszinierte: „Der Wal als Symbol und Ausgangspunkt für die Vereinigung der Männer in der Extremsituation, daraus konnte das Stück entstehen.“

Sie nippt an ihrem Kaffee. Der kleinen, zerbrechlich wirkenden Theatermacherin sind die Strapazen ihrer „Moby-Dick“-Bearbeitung in der Werkstatt des Schiller Theaters noch deutlich anzumerken. Es war ihr letztes Stück mit dem Orphtheater und auch der Abschluss einer Trilogie, die zunächst ohne Konzeption erst im freien Spiel entstand. „Eigentlich suche ich mir die Stoffe nicht aus, sondern sie suchen mich“, behauptet Truckenbrodt. Aus dem Wechselspiel von Suche und Beobachtung hätte sich auch ihr spezieller Regiestil geformt, meint die über Erfurt 1987 nach Berlin Gekommene.

Auch Moby Dick war das Ergebnis eines längeren Entwicklungsprozesses. Der dickleibige Roman von Melville sperrt sich eigentlich einer Bühnenfassung. Dennoch begann Truckenbrodt zu proben, versuchte prägnante Passagen und Sätze zu extrahieren. Das gelang zunächst nur stockend, dann erfuhr sie von Tim Staffels konzentrierter Fassung des Monumentalwerkes und hatte damit einen Ausgangspunkt. Aber noch immer wusste sie nicht, wie die Männer auf großer Fahrt später auf der Bühne agieren würden. Das schälte sich erst langsam heraus, auch die letztlich präsentierte Fassung soll keine endgültige sein.

„Gutes Theater verändert sich stets, jede Vorstellung ist einmalig“, ist sich Truckenbrodt sicher. Ihre Rolle als Regisseurin sieht sie eher im beobachtenden Arrangement als bei der strengen Führung: „Ich entdecke sehr viel Neues, wenn ich den Schauspielern ihre Freiheit lasse.“ Dieser Regiestil prägt nicht nur Moby Dick, sondern auch ihre anderen Arbeiten für das Orphtheater. Schon „Lilith am toten Meer“ war zunächst ohne eine feststehende Textvorlage entstanden und hatte sich erst im assoziierten Spiel der frisch gecasteten Schauspieler zu formen begonnen. Immer deutlicher wurde dann, dass „Lilith“ keine bestimmte Frau, sondern eine vielgestaltige Blaupause war. Die Spannbreite reichte von der Groteske bis zur Romanze. Nun sollte ein Stück über Männer folgen, ähnlich experimentell ausbaldowert. Es wurde genau so intensiv, aber gewalttätiger. Zwar reicht das Spektrum des real existierenden Mannes von Rammstein bis zum Ringelpullover, sein Rollenbild aber prägen noch immer atavistische Verhaltensmuster. So jedenfalls erschien es Truckenbrodt bei den Proben: „Da konnten plötzlich alle prima stampfen, schreien und marschieren, auch wenn sie das nie vorher gemacht hatten.“

Schon das historische Ausgangsgeschehen des Romans hatte gezeigt, wie zerbrechlich die Stangen des sozialen Korsetts in Extremsitutionen sind. Am 20. November 1820, dreißig Jahre vor dem Erscheinen des Buches, versenkte ein riesiger Pottwal den Nantucketer Walfänger „Essex“. Der Kampf ging schnell. Innerhalb von zehn Minuten prallte der dreißig Meter lange Pottwal zweimal gegen das Schiff. Mit dem Untergang des Schiffes begann das Drama der Besatzung. Die Seeleute hatten das Unglück vollständig überlebt und mussten sich entscheiden, wohin sie in ihren auf dem riesigen Pazifik lächerlich kleinen Rettungsbooten paddeln wollten. Zur Auswahl stand in westlicher Richtung Französisch-Polynesien und in östlicher Richtung die südamerikanische Küste. Sie entschieden sich unseligerweise für die falsche Richtung und versuchten nach Peru zu schippern – von Französisch-Polynesien hieß es, es sei von Kannibalen bevölkert. Nur acht der ursprünglich zwanzig Mann in den drei Rettungsboten überlebten die Irrfahrt.

Als der Walfänger Dauphin am 23. Februar 1821 das Rettungsboot mit den beiden Überlebenden Pollard und Ramsdell sichtete, stockte Matrosen der Atem. Die Haut der ausgezehrten Schiffbrüchigen war verbrannt und wund, ihre Augen waren entzündet, und sie kauerten über einem Haufen von Menschenknochen, aus denen sie das süße Mark heraussaugten. Nicht alle verspeisten Seeleute waren eines natürlichen Todes gestorben. Den Maat Owen Coffin hatten die Übrigen per Los zur Notration bestimmt, Ramsdell hatte ihn erschossen.

Kurz darauf veröffentlichte einer der überlebenden Matrosen einen Bericht des Unglücks. Den las ungefähr zwanzig Jahre später ein Matrose an Bord des amerikanischen Walfängers Acushnet: Herman Melville. Melville verschwieg den dramatischen Schlussakt der Geschichte. Ihn faszinierte der archaische Konflikt zwischen dem rachebesessenen Kapitän und dem mythischen weißen Wal. Verstrickt in Mordfantasien schreckt Kapitän Ahab auch der eigene Tod nicht mehr.

So existenziell wie das Finale des Romans und das Ende der Irrfahrt sollte auch Theater sein, findet Truckenbrodt. Mit Grenzsituationen des Lebens hat sie Erfahrung. Die Regisseurin war früher einmal Hebamme, bevor sie zunächst als Schauspielerin das Theater kennen lernte und dann mit eigenem Ensemble reüssierte. Zwischen den beiden Berufen gibt es Ähnlichkeiten, meint sie: „Oft kommt es mir so vor, als würde ich bei der Inszenierung auch etwas unter Schmerzen ans Licht heben.“

Mit mittlerweile 17 Stücken etablierte sie ein exzessives Theaterspiel, das häufig keine leichte Kost ist. Die Schauspieler schreien, wüten, sind aber in leisen Szenen umso nuancierter. Gelegentlich gelangen sie an Extrempositionen, die wie bei dem Schauspieler Uwe Schmieder dann nur noch im buchstäblichen Käfig zu fassen sind: mit einer Soloperformance.

Manchmal vereinigt Susanne Truckenbrodt weit auseinander liegende Theaterarbeiten. So fasste sie „Moby Dick“ und „Lilith“ als Abschluss der Trilogie in einer offenen, von den Schauspielern improvisierten Schlussfassung zusammen: „Das war wie Free-Jazz.“ So ähnlich solle es mit ihrer Regiearbeit weitergehen. Mit dem Entschluss, das Orphtheater zu verlassen, steht Susanne Truckenbrodt allerdings vor einem schwierigen Neuanfang. In der von Geldnöten gebeutelten freien Theaterszene bedeutet das für sie zunächst einmal einen bürokratischen Hürdenlauf um Fördergelder, der nicht minder existenziell sein kann.