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Arbeitsrecht und Marktwirtschaft

■ Durchgang durch die Rechtsbegriffe in der Marktwirtschaft / Die Grundlagen werden auch in der DDR Anwendung finden

Der Rote Faden, Teil 3

Ulrich Mückenberger

Im Teil Zwei der Serie wurden Begriffe aus dem bundesdeutschen Arbeitsrecht und ihre Auslegung in der Rechtssprechung behandelt: Gewerbefreiheit, Arbeitsvertragsfreiheit, Kündigungsrecht, Weisungsrecht, Arbeitsschutz, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie. Wir setzen dies heute fort.

8. Betriebsverfassung: Auf der Ebene des Betriebes sieht das Betriebsverfassungsgesetz die Errichtung von Betriebsräten vor, die an gesetzlich bestimmten sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten der Beschäftigten mitwirken und dabei in Konfliktfällen auf ein gesetzlich vorgeschriebenes Instrumentarium (Einigungsstelle, Arbeitsgericht) verwiesen sind. Die Handlungsbedingungen und -möglichkeiten des Betriebsrates werden in einem der nächsten Artikel näher erläutert. Im Bereich des öffentlichen Dienstes werden Personalräte nach den Personalvertretungsgesetzen des Bundes und der Länder tätig.

9. Unternehmens-Mitbestimmung: Auf Unternehmensebene, wo die für die Beschäftigten ausschlaggebenden wirtschaftlichen Entscheidungen gefällt werden, ist gesetzlich die Entsendung von Beschäftigtenvertretern in den Aufsichtsrat vorgesehen (s. §§ 76, 77 des BetrVG 1952, die laut § 129 des gültigen BetrVG weitergelten). Zahl und Einfluß der Belegschaftsvertreter im Aufsichtsrat sind nach Art und Größe des jeweiligen Unternehmens unterschiedlich geregelt. Unternehmen mit über 2.000 Beschäftigten fallen unter das Mitbestimmungsgesetz von 1976; dort verfügen zwar Arbeit und Kapital über die gleiche Stimmenzahl im Aufsichtsrat - da aber die Kapitalseite im Falle der Nicht -Einigung ein erhöhtes Stimmrecht hat, verfügt sie über ein stimmenmäßiges Übergewicht im Aufsichtsrat. Dagegen besteht in Aufsichtsräten der Montanindustrie (Kohle, Eisen und Stahl) paritätische Repräsentanz beider Seiten unter ausschlaggebender Beteiligung eines neutralen Dritten (Montan-Mitbestimmungsgesetz von 1951).

10. Keine Wirtschafts- und Sozialräte: Unternehmensübergreifende Organe oder Institutionen der Arbeitsvertragsparteien - etwa Wirtschafts- und Sozialräte auf Branchen-, Länder- oder nationaler Ebene - gibt es in der Bundesrepublik nicht oder nur auf informeller oder freiwilliger Grundlage (zum Beispiel konzertierte Aktion im Gesundheitswesen).

11. Soziale Sicherung: Die Normen und Institutionen, die dem Schutz abhängig Beschäftigter angesichts vorübergehender oder dauernder Erwerbsunfähigkeit dienen, sind im Sozialrecht zusammengefaßt. Die Risiken der Krankheit (Sozialgestzbuch - SGB -, Fünftes Buch), der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (RVO, Drittes Buch) sowie der Arbeitslosigkeit (Arbeitsförderungsgesetz von 1969) sind entsprechend dem Versicherungsprinzip geregelt. In der Regel - die zahlreichen Ausnahmefälle können erst in späteren Artikeln berücksichtigt werden - entrichten Beschäftigte und Unternehmen gleich hohe Versicherungsbeiträge und verfügen in den über die Versicherungstätigkeit entscheidenen Gremien über paritätisches Stimmrecht. Der Bezug von Versicherungsleistungen setzt im allgemeinen Mindestbeitragszeiten voraus. Die Höhe der Leistungen ist meist von Dauer und Höhe der geleisteten Beiträge abhängig. Maßnahmen, die das versicherte Risiko zu vermeiden versuchen (Prävention), gewinnen zunehmendes Gewicht gegenüber solchen Versicherungsleistungen, die lediglich eingetretenen Schaden zu ersetzen versuchen.

Unabhängig vom Versicherungsprinzip ist das System der Sozialhilfe, das Bedürftigkeit voraussetzt und dessen Leistungen im Regelfall unter der Höhe der Lohneinkommen und der Sozialversicherungsleistungen liegen.

12. Rechtsschutz: Die Sozialordnung der Bundesrepublik wird überformt durch ein umfassendes System des gerichtlichen Rechtsschutzes. Für alle rechtlichen Streitfragen auf den zwischen 2 und 11 geschilderten Gebieten sind Gerichte, vor allem diejenigen der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, zuständig. Auch wo gesetzliche Grundlagen fehlen, ist die Gerichtsbarkeit durch Rechtsfortbildung und Lückenfüllung tätig geworden. Die Spielräume der unmittelbaren Konfliktaustragung zwischen Beschäftigten und ihren Organisationen einerseits, Unternehmen und deren Zusammenschlüssen andererseits haben sich entsprechend verringert.

13. Artikulation gegenüber dem Staat: Als letztes Element der geltenden Sozialordnung der Bundesrepublik sind noch die Artikulationschancen der Zusammenschlüsse von Beschäftigten wie von Arbeitsgebern gebenüber dem Staat zu nennen. Während die individuelle und kollektive Meinungsäußerungsfreiheit den Schutz der Artikel 5 und 9 Absatz 3 GG genießt, erstreckt sich dieser Schutz nach vorherrschender Meinung nicht mehr auf Demonstrations- oder Kampfstreiks, die den Staat zu einer bestimmten Regelung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bringen bzw. ihn davon abhalten sollen (Verbot des sog. politischen Streiks. Neben Meinungskundgabe und Demonstration sind den Koalitionen die Mittel der Lobby-Arbeit im parlamentarischen Raum gegeben. Daneben arbeiten die Koalitionen in zahlreichen staatlichen oder quasi -staatlichen Institutionen mit, die auf die Arbeits- und Lebensbedingungen abhängig Beschäftigter Einfluß haben.

Dieser Durchgang durch wichtige Elemente der bestehenden Sozialordnung der Bundesrepublik kann keinerlei Vollständigkeit für sich beanspruchen. Viele der angerissenen Materien sind in Wissenschaft und Praxis nicht eindeutig geklärt, umstritten oder in der Veränderung begriffen. Keineswegs alle sind im Staatsvertrag berücksichtigt. Trotzdem ist dieser Überblick für die folgende Artikelserie wichtig. Denn wenn wir im Folgenden einzelne aus der BRD in die DDR exportierte Gesetze erläutern, darf der Gesamtzusammenhang der Sozialordnung der BRD, aus der sie stammen, nicht vernachlässigt werden. Sie werden nämlich entsprechend diesem Zusammenhang in der BRD gelesen, verstanden, gedeutet und - im Streitfall - amtlich oder gerichtlich interpretiert. Die Ausprägung zwischen Marktwirtschaft und Sozialem, die sich darin niederschlägt, prägt auch die Normsetzung und interpretationen bei den einzelnen Gesetzen.

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