KOMMENTAR: Arbeiterklasse
■ Die ArbeiterInnen in Osteuropa wollen Reformen und müssen sich gleichzeitig wehren
In den Ländern des ehemaligen Ostblocks ist in diesem Herbst neben dem Wiederaufleben nationalistischer Kräfte noch ein anderes neues Element aufgetaucht: das der Arbeiter. Im vorigen Jahr hielt sich die im Kommunismus theoretisch so hoch gehaltetene und in der Praxis gegängelte „Arbeiterklasse“ noch zurück. In der gesamten Region — Polen bildet da vielleicht eine Ausnahme — waren es Volksbewegungen unter Führung demokratischer und nationalistischer Intellektueller, die den Sturz der stalinistischen Systeme herbeiführten. Im Zuge der nun auf Marktwirtschaft orientierten Wirtschaftsreformen sind die bisher kaum in Erscheinung getretenen ArbeiterInnen, die am meisten von den Umstrukturierungen in Form von Arbeitslosigkeit und höheren Preisen betroffen sind, dabei, aktiv zu werden. Im vorigen Jahr noch fest im Griff der Gewerkschaftsbürokratien, die ja bekanntermaßen als Transmissionsriemen der kommunistischen Parteien wirkten, beginnen sie, auch zum Mittel des Streiks zu greifen. Die Formierung neuer Gewerkschaftsstrukturen steht auf der Tagesordnung.
Noch im vorigen Jahr hatten viele demokratische Intellektuelle die Befürchtung geäußert, die ArbeiterInnen könnten sich von den stalinistischen Bürokratien gegen die Demokratiebewegungen ausspielen lassen. In Rumänien degradierten sich die Bergarbeiter im Juni dieses Jahres tatsächlich zum Objekt anderer Interessen, doch dies blieb eine Ausnahme. Wie im Donbassgebiet so formulierten die ArbeiterInnen bei den Streiks in Ungarn Forderungen, die zwar die jeweiligen politisch Verantwortlichen in Schwierigkeiten brachten, doch sich keinesfalls gegen den demokratischen Prozeß richteten. Während des nun in Bulgarien ausgerufenen Streiks werden sogar explizit die Forderungen der politischen Protestbewegung gegen die Bürokratien unterstützt.
Doch gerade an diesem Punkt befinden sich die ArbeiterInnen in einem offensichtlichen Widerspruch. Einerseits für die Demokratie und vor allem für Wirtschaftsreformen eintretend — diese stehen synonym für einen möglichst schnell zu erreichenden höheren Lebenstandard — sind die Arbeiter in der gegenwärtigen Sitaution gezwungen, andererseits ihre existentiellen Interessen zu verteidigen. Gegen Massenentlassungen, für höhere Löhne, gegen soziale Unsicherheit zu kämpfen ist ihr unumgängliches, unmittelbares Interesse. Es wird gewiß nicht leicht für die Gesellschaften des Ostens, diesen Widerspruch auszuhalten. Er bietet immerhin Ansatzpunkte für das Wiederaufleben einer neuen, demokratischen Linken. Aber er könnte auch politischer Nährboden für nationalistische Demagogen sein. Erich Rathfelder
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